Quelle Nummer 304
Rubrik 33 : BELLETRISTIK Unterrubrik 33.08 : LITERARISCHE
THOMAS BERNHARD
GEHEN
SUHRKAMP FRANKFURT 1971
SUHRKAMP TASCHENBUCH 5, S. 7-
001 Während ich, bevor Karrer verrückt geworden ist, nur am
002 Mittwoch mit Oehler gegangen bin, gehe ich jetzt, nachdem Karrer
003 verrückt geworden ist, auch am Montag mit Oehler. Weil Karrer
004 am Montag mit mir gegangen ist, gehen Sie, nachdem Karrer am
005 Montag nicht mehr mit mir geht, auch am Montag mit mir, sagt
006 Oehler, nachdem Karrer verrückt und sofort nach Steinhof
007 hinaufgekommen ist. Und ohne zu zögern, habe ich zu Oehler
008 gesagt, gut, gehen wir auch am Montag, nachdem Karrer verrückt
009 geworden ist und in Steinhof ist. Während wir am Mittwoch immer
010 in die eine (in die östliche) Richtung gehen, gehen wir am
011 Montag in die westliche, auffallenderweise gehen wir am Montag
012 viel schneller als am Mittwoch, wahrscheinlich, denke ich, ist
013 Oehler mit Karrer immer viel schneller gegangen als mit mir, weil
014 er am Mittwoch viel langsamer, am Montag viel schneller geht.
015 Aus Gewohnheit gehe ich, sehen Sie, sagt Oehler, am Montag
016 viel schneller als am Mittwoch, weil ich mit Karrer (also am
017 Montag) immer viel schneller gegangen bin als mit Ihnen (am
018 Mittwoch). Weil Sie, nachdem Karrer verrückt geworden ist,
019 nicht mehr nur am Mittwoch, sondern auch am Montag mit mir gehen,
020 brauche ich meine Gewohnheit, am Montag und am Mittwoch zu gehen,
021 nicht zu ändern, sagt Oehler, freilich haben Sie, weil Sie
022 jetzt Mittwoch und Montag mit mir gehen, Ihre Gewohnheit
023 sehr wohl verändern müssen und zwar in für Sie wahrscheinlich
024 unglaublicher Weise verändern müssen, sagt Oehler. Es sei aber
025 gut, sagt Oehler und er sagt in unmißverständlich belehrendem
026 Ton, von größter Wichtigkeit für den Organismus, ab und zu
027 und in nicht zu großem Zeitabstand, die Gewohnheit zu ändern,
028 und er denke nicht nur an ändern, sondern an ein
029 radikales Ändern der Gewohnheit. Sie ändern ihre
030 Gewohnheit, sagt Oehler, indem sie jetzt nicht nur am Mittwoch,
031 sondern auch am Montag mit mir gehen und das heißt jetzt
032 abwechselnd mit mir in die eine (in die MittwochRichtung)
033 und in die andere (in die Montag-) Richtung, während ich
034 meine Gewohnheit dadurch ändere, daß ich bis jetzt immer
035 Mittwoch mit Ihnen, Montag aber mit Karrer gegangen bin, jetzt
036 aber Montag und Mittwoch und also auch Montag mit Ihnen gehe und
037 also mit Ihnen Mittwoch in die eine (in die östliche) und
038 Montag mit Ihnen in die andere (in die westliche) Richtung.
039 Außerdem gehe ich zweifellos und naturgemäß mit Ihnen anders als
040 mit Karrer, sagt Oehler, weil es sich bei Karrer um einen ganz
041 anderen Menschen als bei Ihnen und also bei Karrers Gehen (und
042 also Denken) um ein ganz anderes Gehen (und also Denken)
043 handelt, sagt Oehler. Er, Oehler, habe durch die Tatsache,
044 daß ich, nachdem Karrer verrückt geworden und nach Steinhof,
045 Oehler sagt, wahrscheinlich endgültig nach Steinhof gekommen ist,
046 Oehler vor der Entsetzlichkeit, so er selbst, gerettet, am
047 Montag allein gehen zu müssen; dann wäre ich Montag überhaupt
048 nicht mehr gegangen, sagt Oehler, denn es gibt nichts
049 Entsetzlicheres, als am Montag allein gehen zu müssen. Montag,
050 sagt Oehler und allein gehen zu müssen, ist das Entsetzlichste.
051 Mir ist der Gedanke ganz einfach unvorstellbar, sagt Oehler,
052 daß Sie Montag nicht mit mir gehn. Und daß ich also Montag
053 allein gehen muß, was mir ganz unvorstellbar ist. Während
054 Oehler die Gewohnheit hat, seinen Mantel vollkommen geschlossen
055 zu tragen, trage ich meinen Mantel vollkommen offen. Was, denke
056 ich, bei ihm auf seine fortwährende Angst vor Verkühlung und vor
057 Erkältung bei offenem Mantel zurückzuführen ist, ist bei mir
058 auf meine fortwährende Angst, in geschlossenem Mantel ersticken
059 zu müssen, zurückzuführen. Und so hat Oehler tatsächlich
060 fortwährend Angst, erfrieren zu müssen, während ich
061 fortwährend Angst habe, ersticken zu müssen. Während Oehler
062 hohe, bis über seine Knöchel hinaufreichende Schuhe anhat, habe
063 ich Halbschuhe an, weil ich nichts mehr hasse als hohe Schuhe,
064 wie Oehler nichts mehr als Halbschuhe haßt. Eine Ungezogenheit
065 (und eine Dummheit!), sagt Oehler, immer wieder, in
066 Halbschuhen zu gehen, eine Unsinnigkeit, in solchen hohen,
067 schweren Schuhen zu gehen, sage ich. Hat Oehler einen
068 breitkrempigen, schwarzen Hut, habe ich einen schmalkrempigen,
069 grauen. Wenn Sie sich angewöhnen könnten, einen solchen
070 breitkrempigen Hut zu tragen, wie ich ihn trage, sagt Oehler oft,
071 während ich oft zu Oehler sage, wenn Sie sich angewöhnen
072 könnten, einen solchen schmalkrempigen Hut zu tragen, wie ich.
073 Auf Ihren Kopf paßt kein schmalkrempiger, sondern nur ein
074 breitkrempiger Hut, sagt Oehler zu mir, während ich zu Oehler
075 sage, auf Ihren Kopf paßt nur ein schmalkrempiger, nicht aber
076 ein so breitkrempiger Hut, wie Sie ihn aufhaben. Während
077 Oehler Fäustlinge anhat, immer die gleichen Fäustlinge, dicke,
078 derbe Wollfäustlinge, die ihm seine Schwester gestrickt hat,
079 habe ich Handschuhe an, dünne, allerdings gefütterte
080 Schweinslederhandschuhe, die mir meine Frau gekauft hat. Nur in
081 Fäustlingen ist einem wirklich warm, sagt Oehler immer wieder,
082 nur in Handschuhen und auch nur in solchen geschmeidigen
083 Lederhandschuhen, sage ich, sind die Hände so beweglich wie
084 meine Hände. Oehler trägt schwarze stulpenlose Hosen, während
085 ich graue Hosen mit Stulpe trage. Wir gehen aber nicht mehr von
086 unserer Kleidung ab und so ist es unsinnig, zu sagen, Oehler
087 solle einen schmalkrempigen Hut, eine Hose mit Stulpe, nicht so
088 enge Röcke, wie er sie anhat, tragen etcetera, ich solle
089 Fäustlinge, schwere, hohe Schuhe anziehen, etcetera, weil wir
090 von der Kleidung, die wir anhaben, wenn wir weggehen, und die wir
091 schon jahrelang anhaben, jahrzehntelang anhaben, wenn wir weggehen,
092 gleich, wo wir hingehen, nicht mehr abgehen, weil uns diese
093 Kleidung in Jahrzehnten zur endgültigen Gewohnheit und also zur
094 endgültigen Kleidung geworden ist. Hören wir etwas,
095 sagt Oehler Mittwoch, prüfen wir, was wir hören und prüfen,
096 was wir hören, so lange, bis wir sagen müssen, das Gehörte ist
097 unwahr, es ist eine Lüge, das Gehörte. Sehen wir
098 etwas, prüfen wir das, was wir sehen, so lange, bis wir sagen
099 müssen, das, was wir sehen, ist entsetzlich. So kommen wir das
100 ganze Leben nicht mehr aus Entsetzlichkeit und Unwahrheit und aus
101 Lüge heraus, sagt Oehler. Tun wir etwas, so denken wir
102 über das, was wir tun, so lange nach, bis wir sagen müssen, es
103 ist etwas Gemeines, es ist etwas Niedriges, es ist etwas
104 Unverschämtes, es ist etwas ungeheuerlich Trostloses, was wir
105 tun, und daß naturgemäß falsch ist, was wir tun, ist
106 selbstverständlich. So wird uns jeder Tag zur Hölle, ob wir
107 wollen oder nicht, und was wir denken, wird, wenn wir es
108 überdenken, wenn wir dazu die erforderliche Geisteskälte und
109 Geistesschärfe haben, in jedem Falle immer zu etwas Gemeinem und
110 Niedrigem und Überflüssigem, was uns lebenslang auf die
111 erschütterndste Weise deprimiert. Denn alles, was gedacht wird,
112 ist überflüssig. Die Natur braucht das Denken nicht, sagt
113 Oehler, nur der menschliche Hochmut denkt sein Denken
114 ununterbrochen in die Natur hinein. Was uns durch und durch
115 deprimieren muß, ist die Tatsache, daß wir durch dieses
116 unverschämte Denken in die gegen dieses Denken naturgemäß
117 völlig immunisierte Natur hinein nur immer noch in eine größere
118 Deprimation hineinkommen, als die, in der wir schon sind. Die
119 Zustände werden durch unser Denken naturgemäß, sagt Oehler,
120 zu immer noch unerträglicheren Zuständen. Denken wir, wir
121 machen die unerträglichen Zustände zu erträglichen Zuständen,
122 so müssen wir bald einsehen, daß wir die unerträglichen
123 Zustände nicht zu erträglichen und auch nicht zu erträglicheren
124 Zuständen gemacht haben (machen haben können), sondern nur noch
125 zu noch unerträglicheren Zuständen. Und mit den Umständen ist
126 es wie mit den Zuständen, sagt Oehler, und mit den Tatsachen
127 ist es dasselbe. Der ganze Lebensprozess ist ein
128 Verschlimmerungsprozeß, in welchem sich fortwährend, dies
129 Gesetz ist das grausamste, alles verschlimmert. Sehen wir einen
130 Menschen, müssen wir uns in kurzer Zeit sagen, was für ein
131 entsetzlicher, was für ein unerträglicher Mensch. Sehen wir die
132 Natur, müssen wir sagen, was für eine entsetzliche,
133 unerträgliche Natur. Sehen wir etwas Künstliches, gleich
134 welches Künstliche, müssen wir in kurzer Zeit sagen, was für
135 eine unerträgliche Künstlichkeit. Gehen wir, sagen wir ja auch
136 in der kürzesten Zeit, was für ein unerträgliches Gehen, wie,
137 wenn wir laufen, was für ein unerträgliches Laufen, wie, wenn
138 wir stehen, was für ein unerträgliches Stehen, wie, wenn wir
139 denken, was für ein unerträgliches Denken. Machen wir eine
140 Begegnung, denken wir in der kürzesten Zeit, was für eine
141 unerträgliche Begegnung. Machen wir eine Reise, sagen wir uns
142 in der kürzesten Zeit, was für eine unerträgliche Reise, was
143 für ein unerträgliches Wetter, sagen wir, sagt Oehler, über
144 gleich was für ein Wetter, wenn wir über, gleich was für ein
145 Wetter, nachdenken. Ist der Verstand ein scharfer, ist das
146 Denken das rücksichtsloseste und das klarste, sagt Oehler,
147 müssen wir in der kürzesten Zeit von allem sagen, daß es
148 unerträglich und entsetzlich sei. Die Kunst ist also zweifellos
149 die, das Unerträgliche zu ertragen und, was entsetzlich ist,
150 nicht als solches, Entsetzliches zu empfinden. Diese Kunst als
151 die schwierigste zu bezeichnen, ist selbstverständlich. Die
152 Kunst, gegen die Tatsachen zu existieren, sagt Oehler, ist die
153 Kunst, die die schwierigste ist. Gegen die Tatsachen existieren,
154 heißt, gegen das Unerträgliche und gegen das Entsetzliche
155 existieren, sagt Oehler. Wenn wir nicht immerfort gegen,
156 sondern nur immerfort mit den Tatsachen existieren, sagt
157 Oehler, gehen wir in der kürzesten Zeit zugrunde. Tatsache ist,
158 daß unsere Existenz eine unerträgliche und entsetzliche
159 Existenz ist, existieren wir mit dieser Tatsache, sagt
160 Oehler, ohne gegen diese Tatsache zu existieren, gehen
161 wir auf die erbärmlichste und auf die gewöhnlichste Weise zugrunde,
162 es sollte uns also nichts wichtiger sein, als immerfort wenn auch
163 nur in *eh, so doch gleichzeitig gegen die Tatsache
164 einer unerträglichen und einer entsetzlichen Existenz zu existieren.
165 Die gleiche Anzahl Möglichkeiten, in (und mit) der
166 Tatsache der unerträglichen und entsetzlichen Existenz zu
167 existieren, ist die gleiche, wie gegen die unerträgliche und
168 entsetzliche Existenz und also in (und mit) und
169 gleichzeitig gegen die Tatsache der unerträglichen und
170 entsetzlichen Existenz. Der Mensch hat immer die Möglichkeit,
171 in (und mit) einer und folglich in allen und
172 gegen alle Tatsachen zu existieren, ohne gegen diese Tatsache
173 und gegen alle Tatsachen zu existieren, wie er immer die
174 Möglichkeit hat, zwar in (und mit) einer Tatsache und mit allen
175 Tatsachen zu existieren und gegen eine und alle Tatsachen und also
176 vor allem gegen die Tatsache, daß die Existenz unerträglich und
177 entsetzlich ist. Es ist immer eine Frage von Geisteskälte und
178 Geistesschärfe und von Rücksichtslosigkeit von Geisteskälte und
179 Geistesschärfe, sagt Oehler. Die meisten Menschen, über
180 achtundneunzig Prozent, sagt Oehler, haben weder Geisteskälte,
181 noch Geistesschärfe und haben nicht einmal Verstand. Diesen
182 Beweis hat zweifellos die ganze bisherige Geschichte erbracht.
183 Wohin wir schauen, weder Geisteskälte, noch Geistesschärfe,
184 sagt Oehler, alles eine riesige, eine erschütternd lange
185 Geschichte ohne Geisteskälte und ohne Geistesschärfe und also
186 ohne Verstand. Wenn wir die Geschichte anschauen, deprimiert vor
187 allem ihre völlige Verstandeslosigkeit, von Geistesschärfe und
188 Geisteskälte ganz zu schweigen. Insoferne ist es keine
189 Übertreibung, zu sagen, die ganze Geschichte ist eine völlig
190 verstandeslose Geschichte, wodurch sie auch eine vollkommen
191 tote Geschichte ist. Wir haben zwar, sagt Oehler, wenn wir
192 die Geschichte anschauen, wenn wir in die Geschichte hineinschauen,
193 wozu es einem Menschen wie mir von Zeit zu Zeit nicht an
194 Kühnheit fehlt, eine ungeheure Natur hinter, tatsächlich unter
195 uns, aber in Wirklichkeit gar keine Geschichte. Die Geschichte
196 ist eine Geschichtslüge, behaupte ich, sagt Oehler. Aber
197 zurück zum Einzelnen, sagt Oehler. Verstandhaben hieße doch
198 nichts anderes, als mit der Geschichte und in erster Linie mit der
199 eigenen persönlichen Geschichte schlußmachen. Von einem
200 Augenblick auf den andern überhaupt nichts mehr akzeptieren,
201 heißt Verstand haben, keinen Menschen und keine Sache, kein
202 System und naturgemäß auch keinen Gedanken, ganz einfach nichts
203 mehr und sich in dieser tatsächlich einzigen revolutionären
204 Erkenntnis umbringen. Aber so zu denken, führt unweigerlich zu
205 plötzlicher Geistesverrücktheit, sagt Oehler, wie wir wissen
206 und was Karrer mit plötzlicher totaler Verrücktheit hat
207 bezahlen müssen. Er, Oehler, glaube nicht daran, daß Karrer
208 jemals wieder aus Steinhof entlassen wird, dazu ist seine
209 Verrücktheit eine zu elementare, sagt Oehler. Sich zwar immer
210 mehr und mehr in den aufregendsten und in den ungeheuerlichsten und
211 in den epochemachendsten Gedanken zu schulen und sich solchen
212 einzigen für ihn noch möglichen Gedanken mit einer noch immer
213 größeren Entschlossenheit vollkommen auszuliefern, sei seine
214 tagtägliche Disziplin, aber nur immer bis zu dem äußersten
215 Grade vor der absoluten Verrücktheit. Geht man so weit,
216 wie Karrer, sagt Oehler, ist man plötzlich entschieden und
217 absolut verrückt und mit einem Schlag wertlos geworden. Denken
218 und immer mehr und immer mehr mit immer größerer Intensität und
219 mit einer immer noch größeren Rücksichtslosigkeit und mit einem
220 immer noch größeren Erkenntnisfanatismus, sagt Oehler, aber
221 nicht einen Augenblick zu weit denken. Jeden Augenblick können
222 wir zu weit denken, sagt Oehler, einfach zu weit gehen in unserem
223 Denken, sagt Oehler, und alles ist wertlos.
Zum Anfang dieser Seite