Quelle Nummer 295
Rubrik 06 : RECHT Unterrubrik 06.22 : AUSLAENDISCHES
VERTRAUENSSCHUTZ IM VOELKERRECHT
JOERG P. MUELLER
MAX-PLANCK-INSTITUT FUER AUSLAENDISCHES OEFFENTLICHES
LICHES RECHT UND VOELKERRECHT, BEITRAEGE ZUM AUS-
LAENDISCHEN OEFFENTLICHEN RECHT UND VOELKERRECHT
BAND 56
CARL HEYMANNS VERLAG KG KOELN BERLIN 1971, S.255
001 Zusammenfassung und Schlußfolgerungen. Natur
002 des Vertrauensschutzes im Völkerrecht. Die vorliegende
003 Untersuchung hat den Vertrauensschutz als einen
004 Orientierungspunkt rechtlicher Ordnung in verschiedenen Bereichen
005 des Völkerrechts aufgezeigt, der den rechtlichen Argumentationen
006 manchmal offen, oft aber auch verborgen zugrunde liegt. Die
007 Einsicht in die Bedeutung, die der Vertrauensgrundsatz bei der
008 Verwirklichung des Völkerrechts, vor allem in der Rechtsprechung
009 und in der Praxis internationaler Organisationen gefunden hat,
010 kann zur Festigung des hinter den verschiedenen Erscheinungen
011 liegenden Rechtsgedankens beitragen. Im Gegensatz zu der
012 typischen, auf Zustimmung beruhenden Bindung aus Vertrag ergibt
013 sich die rechtliche Bindung aus Vertrauensschutz daraus, daß sie
014 sich dem Staat infolge der Wirkung seines Verhaltens auf den
015 Rechtspartner von der objektiven Rechtsordnung her auferlegt. Der
016 soziale Gedanke der Rücksichtnahme auf die Wirkungen eigenen
017 Handelns beim Rechtsgenossen wird aktualisiert; dies bedeutet
018 nach den Worten Witenbergs. Der Rechtsschutz für
019 erwecktes Vertrauen kann sich materiell-rechtlich im Erwerb,
020 Verlust oder in der Konsolidierung von Rechten und Pflichten
021 äußern (Verwirkung, stillschweigender Verzicht,
022 stillschweigende Vertragsänderung, völkerrechtliche " Ersitzung "
023 u. a.), er kann bei der Vertragsinterpretation zur
024 Geltung kommen oder prozeßrechtlich die Beweislage präjudizieren
025 (prozessuales estoppel u. a.). Gegenüber der
026 Deliktshaftung zeichnet sich die Verpflichtung aus
027 Vertrauensschutz dadurch aus, daß sie sich an rechtmäßiges
028 Handeln anschließt. Man darf sich im Völkerrecht den
029 Vertrauensschutz nicht als axiomatischen Grundsatz mit
030 Deduktionsmöglichkeiten für einzelne Rechtsfälle vorstellen.
031 Als wesentliches Ergebnis dieser Arbeit ist festzuhalten, daß im
032 Vertrauensschutz eine grundsätzlich völkerrechtlich relevante
033 Fragestellung liegt. Man könnte auch sagen, es handle sich dabei
034 zunächst um ein abstraktes und formales Rechtsprinzip, dem nicht
035 unmittelbar eine Verhaltensnorm für die Rechtssubjekte entnommen
036 werden kann, sondern das erst durch seine Zuordnung auf typische
037 oder konkrete Problemlagen einen bestimmten Inhalt bekommt. Zu
038 behaupten, ein Staat sei grundsätzlich an die Erwartungen
039 gebunden, die er mit seinem Verhalten bei einem anderen Staat
040 erweckt, wäre ebenso verfehlt wie die Feststellung, es gebe
041 keinen rechtlichen Schutz für erwecktes Vertrauen. Die Frage
042 bleibt stets, wo die Grenze zwischen dem rechtlich schützenswerten
043 Vertrauen und der rechtlich irrelevanten Spekulation auf ein
044 bestimmtes zukünftiges Handeln eines andern Rechtssubjekts zu
045 ziehen ist. Maßstäbe zur Bestimmung dieser Grenze sind aus
046 einer Gesamtschau der Bereiche des Völkerrechts zu gewinnen, in
047 denen sich Konkretisierungen des Vertrauensprinzips im positiven
048 Recht feststellen lassen. Die vorliegende Arbeit konnte nicht
049 mehr als Perspektiven in dieser Richtung öffnen.
050 Erscheinungsformen des Vertrauensschutzes im Bereich allgemeiner
051 und völkerrechtlicher Rechtsgrundsätze. Einen ersten
052 Bereich der Verwirklichung des Vertrauensprinzips im geltenden
053 Völkerrecht finden wir bei den verschiedenen Anwendungen der
054 estoppel-Doktrin. Estoppel bedeutet die
055 (ursprünglich prozessrechtliche) Hinderung einer Partei an der
056 erfolgreichen Geltendmachung eines Standpunktes, der im
057 Widerspruch zu früherem schlüssigem Verhalten steht. Der
058 Grundsatz dient unmittelbar der Verwirklichung des Prinzips
059 non licet venire contra factum proprium. Estoppel bedeutet aber
060 nicht eine vollumfängliche Bindung jedes Völkerrechtssubjekts an
061 sein eigenes früheres Verhalten. Dies würde ebenso die
062 normativen Möglichkeiten des Rechts überfordern, wie der
063 Versuch einer allgemeinen rechtlichen Durchsetzung des Gebots der
064 Wahrhaftigkeit. Ein nach der Lehre von estoppel
065 verpöntes widersprüchliches Verhalten liegt erst dort vor, wo die
066 Änderung in der Haltung eines Staates als eigentlicher
067 Vertrauensbruch zum Nachteil des Rechtsgenossen erscheint. Die
068 estoppel-Lehre ist im heutigen Völkerrecht stark in
069 Entwicklung begriffen. Sie wird sowohl gewohnheitsrechtlich
070 begründet als auch in dem Sinn, daß sich darin ein allgemeiner
071 Rechtsgrundsatz widerspiegelt, der den Rechtsordnungen
072 zivilisierter Staaten gemeinsam ist. Unter dem Titel des
073 " Qualifizierten Stillschweigens " untersucht die
074 Völkerrechtslehre die rechtsgestaltende Funktion, die dem
075 Stillschweigen von interessierten Staaten gegenüber fremder
076 einseitiger Rechtsbehauptung zukommen kann. Das Stillschweigen
077 (Duldung, Hinnahme) wird - im Sinn einer
078 vertrauenstheoretischen Interpretation staatlichen Verhaltens -
079 auf seinen Erklärungsgehalt geprüft. Ein solcher kann sich aus
080 einer Situation ergeben, in der eine passive Haltung nach Treu
081 und Glauben nicht anders denn als stillschweigende Anerkennung
082 (Zustimmung) verstanden werden kann. Mit dem gleichen Problem
083 befaßt sich die völkerrechtliche Lehre von " acquiscende ",
084 bei der es sich ebenfalls um eine Deutung und rechtliche
085 Auswertung passiven Verhaltens unter dem Gesichtspunkt des
086 Vertrauensschutzes handelt. Eine besondere Bedeutung kommt in
087 allen Fällen dem Zeitelement zu, das stets in Relation zur
088 Intensität der Rechtsbehauptung, zur Zumutbarkeit des Protestes,
089 dem gegenseitigen Verhältnis der aktuell betroffenen staatlichen
090 Interessen und anderer situationsbedingter Umstände des
091 Einzelfalls zu würdigen ist. Bei Gebietsstreitigkeiten
092 treten verschiedene Formen direkter oder indirekter,
093 ausdrücklicher oder stillschweigender Anerkennung der
094 Rechtsansprüche zwischen potentiellen Rivalen in Konkurrenz zum
095 Erfordernis effektiver Herrschaftsausübung, das in der Lehre von
096 der Ersitzung eine so überragende Rolle gespielt hat. Die neuere
097 Rechtsprechung bietet Beispiele dafür, daß, je weniger
098 ausschließlich die tatsächliche Herrschaftsausübung durch einen
099 von mehreren rivalisierenden Gebietsprätendenten nachgewiesen ist,
100 oder je weniger die effektive Ausübung staatlicher Autorität
101 über ein Territorium wegen der Natur der Sache möglich ist,
102 desto mehr andere schlüssige Manifestationen der Souveränität in
103 den Vordergrund treten, deren Hinnahme durch andere interessierte
104 Staaten als stillschweigende Anerkennung ins Gewicht fällt.
105 Allgemein ist festzustellen, daß bloßes Stillschweigen vor allem
106 dann als schlüssiges Verhalten verstanden werden darf, wenn sich
107 aus einem besonderen Vertrauensverhältnis zwischen den Parteien
108 (Vertragsverhältnis, Nachbarverhältnis,
109 Vasallenverhältnis u. a.) eine erhöhte Pflicht zur
110 Stellungnahme ergibt. Der Problemkreis der
111 " Verjährung " völkerrechtlicher Ansprüche bietet ein
112 interessantes Beispiel dafür, daß das Völkerrecht nicht den
113 gleichen Grad der Formalisierung aufweist wie die Landesrechte mit
114 ihren für je bestimmte Kategorien von Rechten differenzierten
115 Verjährungsfristen. Dies hängt mit der allgemein geringeren
116 institutionellen Verfestigung und Durchbildung der
117 Völkerrechtsordnung, aber auch mit dem schwächeren Bedürfnis
118 nach formalisierter Regelhaftigkeit - angesichts der geringeren
119 Häufigkeit analoger Tatbestände im internationalen Verkehr -
120 zusammen. Die gebotene zeitliche Begrenzung der Durchsetzbarkeit
121 völkerrechtlicher Ansprüche ist durch situationsbezogene
122 Konkretisierung ähnlicher Grundsätze zu gewinnen, wie sie
123 gesetzespolitisch auch den Verjährungsregeln des Landesrechts
124 zugrunde liegen. Zu diesen Grundsätzen gehören auch die
125 Anforderungen der Rechtssicherheit und des Vertrauensschutzes.
126 So kann auch im Völkerrecht mit der Geltendmachung seines
127 behaupteten Anspruchs nicht mehr durchdringen, wer durch sein
128 Zuwarten den andern in den Glauben versetzt, er werde seinen
129 angeblichen Anspruch nicht mehr geltend machen, und dadurch den
130 andern in seinen Verteidigungsmöglichkeiten beeinträchtigt,
131 insbesondere infolge Beweisverlusts. Der Rechtsverlust infolge
132 Zeitablaufs im Völkerrecht läßt sich mitunter auch als ein
133 Tatbestand von estoppel, acquiscence, der Verwirkung oder
134 des stillschweigenden Verzichts deuten. Die Übergänge sind in
135 der Praxis fließend. Entscheidend ist im Völkerrecht stets
136 weniger der rein quantitative Aspekt der Verspätung als der
137 qualitative, d. h. die Bewertung im Einzelfall auch unter
138 dem Gesichtspunkt des Vertrauensschutzes und der Wirkung auf die
139 konkreten Interessen der Parteien. Relevanz des
140 Vertrauensprinzips bei der Gewohnheitsrechtsbildung. Das
141 Völkerrecht stellt in seiner Grundstruktur eine dezentralisierte
142 und im Institutionellen wenig gesicherte Rechtsordnung dar. Was
143 als Recht gilt, wird infolge des Mangels an zentralen Organen der
144 Rechtsetzung und des Fehlens einer allgemeinen und obligatorischen
145 Gerichtsbarkeit weithin in einem ständigen Prozeß der
146 Vereinbarung, Anerkennung, Duldung, Bestätigung oder
147 Bestreitung unter den Rechtssubjekten konkretisiert. Die
148 Staatenpraxis - als das Verhalten der Völkerrechtssubjekte
149 in rechtlich relevanten Bereichen des zwischenstaatlichen Verkehrs
150 - bringt nicht nur deklarativ bestehendes Recht zum Ausdruck,
151 sondern ist unter gewissen Bedingungen selbst konstitutiv für seine
152 Festigung, Änderung oder Aufhebung. Staatenpraxis in diesem
153 Sinn kann man verstehen als einen ständigen Kommunikationsprozeß
154 zwischen den Völkerrechtssubjekten. Sie bringen ihre
155 Stellungnahme zu konkreten Fragen rechtlicher Ordnung zum
156 Ausdruck durch förmliche Äußerungen (in Vertragsurkunden,
157 diplomatischen Noten, Memoranden, Korrespondenzen u. a.)n.a.
158 , durch Stellungnahme an internationalen Konferenzen, aber auch
159 durch bestimmte symbolische Handlungen und andere schlüssige
160 Verhaltensweisen (Duldung der Ausübung fremder Hoheitsakte auf
161 umstrittenem Gebiet usw.). All diesen Akten kommt, wenn sie
162 in einem rechtlich relevanten Bereich des zwischenstaatlichen
163 Verkehrs vorfallen - ein bestimmter Erklärungsgehalt zu,
164 der für die völkerrechtliche Wirkung bestimmend ist. Ihn zu
165 ermitteln ist die Aufgabe völkerrechtlicher - wertender -
166 Interpretation im weitesten Sinn. Bei dieser rechtlichen Deutung
167 staatlichen Verhaltens ist das Vertrauensprinzip stets mitbeteiligt.
168 Es weist in dem ganzen beschriebenen Prozeß stets darauf hin,
169 daß für die Entstehung und den Umfang rechtlicher Bindung der
170 objektive Sinn von Erklärungen entscheidend ist, das, was die
171 Allgemeinheit, der vernünftige Verkehrsteilnehmer aus dem
172 äußeren Verhalten entnimmt. Der Eindruck ist entscheidend, den
173 das objektiv feststellbare Verhalten bei der Rechtsgemeinschaft
174 oder beim einzelnen Betroffenen in der Außenwelt macht. Wie beim
175 Vertrag auch der gebunden wird, der zwar keinen Vertrag
176 abschließen will, aber dessen Verhalten dennoch den objektiven
177 Sinn der Annahme einer Vertragspflicht hat, so kann auch in
178 anderen Rechtsbereichen das typische, objektive Verhalten in
179 seiner sozialen Bedeutung Rechtswirkungen auslösen. In
180 diesem Sinn wird zur Diskussion gestellt, ob nicht das
181 Vertrauensprinzip bei gewissen Formen der
182 Gewohnheitsrechtsbildung als ein entscheidender Faktor bei der
183 Anerkennung einer Übung als Recht im Sinne des Art. 38 (1 b)
184 des IGH-Statuts eine Rolle spielt. Die
185 gewohnheitsrechtliche Norm geht nach Viralli aus dem
186 Verhalten derjenigen Staaten hervor, die durch sie gebunden werden.
187 Der Grund des allmählichen Verbindlichwerdens eines
188 gleichförmigen und konstanten Verhaltens könnte darin liegen,
189 daß berechtigte Erwartungen der in ihrer Interessensphäre
190 betroffenen Rechtssubjekte oder der weiteren Rechtsgemeinschaft
191 entstehen, das zukünftige Verhalten werde der gewohnten
192 Uniformität folgen. Auch die Soziologie lehrt, daß aus
193 faktisch regelhaften sozialen Prozessen soziale Erwartungen und
194 Verbindlichkeiten, also Normen entstehen können. Durch ihre
195 verläßliche Wiederkehr und Erwartbarkeit erhält eine
196 Verhaltensweise ordnende Funktion in einem Sozialgebilde. Es ist
197 unbestritten, daß die " Anerkennung einer Übung als Recht "
198 im Sinne des Art. 38 (1 b) des IGH-Statuts auch
199 stillschweigend erfolgen kann. Gerade bei solcher stillschweigenden,
200 aus den Umständen zu schließenden Anerkennung wird das
201 Vertrauensprinzip relevant. Es geht um die Interpretation
202 objektiv manifestierten staatlichen Verhaltens unter dem
203 Gesichtspunkt der Anforderungen eines redlichen internationalen
204 Verkehrs, und darin unterscheidet sich die hier vertretene Meinung
205 grundsätzlich von gewissen Konsensualtheorien der
206 Gewohnheitsrechtsbildung, die die Rechtsentstehung durchwegs -
207 mitunter mittels bloßer Fiktionen - auf den freien Willen
208 souveräner Staaten zurückführen wollten. Während die Lehre
209 von der opinio iuris eine vorbestehende normative Ordnung
210 voraussetzt, die die Rechtssubjekte in ihrem Handeln bei der
211 Ausbildung einer konstanten Übung motiviert, wird im Lichte des
212 Vertrauensprinzips deutlich, daß nicht die - richterlicher
213 Beurteilung sowieso weithin entzogene - Motivation des handelnden
214 Staates für die Anerkennung einer Übung als Recht entscheidend
215 sein kann, sondern das gerechtfertigte Vertrauen anderer Staaten
216 oder der Rechtsgemeinschaft als Ganzer in die Konstanz fremden
217 Verhaltens in rechtlich relevanten Handlungsbereichen. Die
218 Betrachtungsweise wird also auf den Staat gelegt, der in seinen
219 Interessen durch die Praxis eines andern Staates berührt wird.
220 Die faktisch feststellbare Übung hat nicht mehr lediglich
221 Beweiswert für die " hinter " ihr liegende Verhaltensnorm,
222 sondern sie ist selbst rechtsbegründend durch die - nach
223 objektiven Kriterien der Interpretation zu bestimmenden -
224 Erwartungen, die sie in rechtlich erheblichen Bereichen des
225 zwischenstaatlichen Verkehrs zu erzeugen geeignet ist und an deren
226 Schutz ein rechtlich anerkanntes Interesse besteht. Die
227 gewohnheitsrechtliche Norm erscheint somit als das Ergebnis der
228 rechtlichen Interpretation einer faktischen Übung. Besondere
229 Sorgfalt ist der Frage zu widmen, welche Erwartungen im
230 Zusammenhang mit einer konstanten Übung als rechtlich
231 schützenswert zu qualifizieren sind. Die Beantwortung dieser
232 Frage setzt eine Abwägung der sich gegenüberstehenden staatlichen
233 Interessen und ihre Würdigung unter dem Gesichtspunkt rechtlicher
234 Ordnung voraus. Die in der Geschichte bewährte Übung kann
235 dabei selber einen Hinweis darauf geben, daß eine
236 Interessenausübung als gemeinverträglich und somit mit den
237 Grundzielen rechtlicher Ordnung vereinbar erscheint. Durch
238 Grundzielen rechtlicher Ordnung vereinbar erscheint. 3.Durch
239 das Zusammenwirken der Staaten in internationalen
240 Organisationen hat der internationale Verkehr erhöhte
241 Intensität und neue Formen angenommen. Dadurch können auch die
242 oben (unter 2.) beschriebenen Prozesse nichtformeller
243 Rechtsbildung intensiviert werden. Die Staaten sind häufiger
244 gezwungen, zu kontroversen Fragen der völkerrechtlichen Ordnung
245 Stellung zu beziehen. Präjudizien können sich dadurch schneller
246 anhäufen. In den institutionalisierten Gesprächsforen, wie sie
247 etwa die Vereinten Nationen bieten, sind die Gelegenheiten
248 vermehrt, fremde Rechtsanmaßung zu bestreiten, und schlüssiges
249 Handeln erhält mitunter qualifizierte Bedeutung. Die
250 Völkerrechtslehre hat erst begonnen, sich der hierin liegenden
251 Möglichkeiten der Weiterbildung des Völkerrechts durch
252 nichtformelle Prozesse der Rechtsbildung anzunehmen. Solche
253 Rechtsfortbildung kann insbesondere das Organisationsrecht
254 betreffen, indem aus einer konstanten Praxis eines
255 Gemeinschaftsorgans eine Verfassungswandlung entstehen kann
256 (coutume constitutionelle internationale). Von Interesse ist
257 dabei besonders die Frage, wieweit ein einzelner Mitgliedstaat
258 durch seine aktive Teilnahme an der Herausbildung einer Praxis
259 seine eigene Stellungnahme im Hinblick auf eine spätere
260 Bestreitung der Rechtmäßigkeit dieser Praxis präjudiziert.
261 Das Rechtsgutachten des IGH aus dem Jahre 1962 hat diese
262 Problematik in verschiedener Hinsicht berührt.
263 Vertrauensschutz im Vertragsrecht. Die Willenstheorie muß
264 heute auch im Völkerrecht als überwunden gelten. Sie wollte in
265 Anlehnung an das Privatrecht die Verbindlichkeit des Vertrages in
266 der Willensmacht des Rechtssubjekts begründen. Es stellt sich
267 die Frage, ob der völkerrechtliche Vertrag seinen
268 Geltungsgrund nicht überhaupt im Vertrauen haben mag, das der
269 Vertragspartner in die Vertragstreue des andern setzen darf.
270 Jedenfalls zeigt sich die Wirksamkeit des Vertrauensprinzips durch
271 das ganze Vertragsrecht hindurch, von der Entstehung des
272 Vertrages bis zur Frage seiner Auflösung unter Berufung auf die
273 clausula rebus sic stantibus. Grundsätze des
274 Vertrauensschutzes können auch relevant werden, wenn fraglich ist,
275 ob überhaupt eine vertragliche Vereinbarung vorliege, ein
276 Problem, das sich besonders im Hinblick auf den Grundsatz der
277 Formfreiheit beim Vertragsschluß stellt und insbesondere bei
278 Nebenabreden im Zusammenhang mit einem förmlich abgeschlossenen
279 Vertrag oder bei der Frage der (stillschweigenden) Abänderung
280 oder Aufhebung von Verträgen häufig auftritt. Entscheidend ist
281 auch hier der normative Sinn von Erklärungen und Verhaltensweisen,
282 die - nach dem Vertrauensprinzip gedeutet - einem
283 Völkerrechtssubjekt zurechenbar sind. Die Bedeutung des
284 Vertrauensprinzips für die Interpretationslehre liegt
285 darin, daß es eine Fragestellung offen legt, an der sich der
286 Interprerationsprozeß orientieren soll. Es geht nicht um die
287 Erforschung subjektiver Bewußtseinszustände (Willensinhalte)
288 irgendwelcher Personen und vor allem nicht von " Staaten " als
289 personifizierter Wesen, sondern um die Zurechenbarkeit des
290 objektiven Sinnes von Äußerungen. Entscheidend ist das
291 Vertrauen, das nach den Anforderungen eines redlichen
292 internationalen Verkehrs vernünftigerweise in die zwischen den
293 Parteien ausgetauschten Erklärungen gesetzt werden durfte. Die
294 Eignung einer Äußerung, unter den gegebenen Umständen als
295 Ausdruck rechtlicher Verpflichtung verstanden zu werden, ist
296 maßgebend. Für die Bedeutung des Vertragstextes ergibt sich,
297 daß dieser weder als ein in sich geschlossenes, autonomes
298 Sinngebilde noch als bloßes Indiz für einen hinter ihm liegenden,
299 wirklichen " Willen " zu verstehen, sondern daß er am ehesten
300 als eine Kommunikation zwischen Völkerrechtssubjekten zu
301 umschreiben ist, deren Gehalt sowohl unter Berücksichtigung der
302 Verhältnisse der Erklärenden (semantisch) als auch unter
303 Berücksichtigung der Wirkungen beim Empfänger (pragmatisch) zu
304 ermitteln ist.
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