Quelle Nummer 207
Rubrik 13 : GESCHICHTE Unterrubrik 13.04 : ALLGEMEINE
EINFUEHRUNG IN DIE ZEITGESCHICHTE
BODO SCHEURIG
EINFUEHRUNG IN DIE ZEITGESCHICHTE
2. UEBERARBEITETE UND ERGAENZTE AUFLAGE
SAMMLUNG GOESCHEN 1204
WALTER DE GRUYTER UND CO, BERLIN 1970, S. 4-11
001 Grundlegung der Zeitgeschichte. Zeitgeschichte ist
002 zum Begriff geworden. Viele widmen sich ihr, um zu politischer
003 Bildung beizutragen. Auch innerhalb der Universitäten wird sie
004 gelehrt: Vorlesungen und Seminare greifen Themen auf, die in
005 die Zeit seit 1917 fallen. Sicher ist Zeitgeschichte nicht
006 überall zu einem Fach geworden. Nach wie vor hat sie mit
007 Widerständen zu kämpfen. Doch daß sich mit ihr ein neuer
008 Bereich der Geschichte aufgetan hat, wird nicht zuletzt von
009 Werken anerkannt, die mit historischen Problemen vertraut zu
010 machen suchen (Wörterbuch zur Geschichte, herausgegeben von
011 Erich Bayer). Wenn aber auch Zeitgeschichte zum Begriff wurde:
012 noch immer erweckt sie abwegige oder zweifelhafte Vorstellungen.
013 Noch immer weiß man nur unvollkommen, was sie umfaßt und verlangt.
014 Aus diesen Gründen ist eine Einführung gerechtfertigt, und
015 nicht nur aus diesen Gründen. Wohl kann und will die
016 Zeitgeschichte keine neue historische Methode begründen; doch
017 die Zeitgeschichte hat Quellen hinzugewonnen, welche die
018 Geschichtswissenschaft des 19.Jahrhunderts nicht kannte. Film
019 und Tonband sind Beispiele. Auch der Zeuge unserer Zeit und die
020 zeitgeschichtliche Dokumentation werfen Fragen auf, mit denen sich
021 früher der Historiker kaum zu befassen hatte. Alle Probleme der
022 Zeitgeschichte begannen mit dem Wort Zeitgeschichte. Von Anfang
023 an schien der Begriff unglücklich gewählt. Hier war
024 zusammengefügt, was sich widerspricht und gleichzeitig zu einer
025 Tautologie verführen mußte. Zeit im Sinne unserer Zeit stellt
026 das Gegenwärtige und Geschehende dar. Geschichte gründet
027 dagegen in der Vergangenheit; sie lebt vom Geschehenen und der
028 Aufgabe, es geistig zu vergegenwärtigen. Zeit im Sinne unserer
029 Zeit ist fließend und offen, Geschichte indes erstarrt und
030 abgeschlossen. Geschichte aber vollzieht sich immer in der Zeit,
031 ja, ohne Zeit könnte von ihr keine rede sein. Das eigens durch
032 " Zeit-Geschichte " hervorzuheben, wäre überflüssig und
033 widersinnig. Gewiß umfaßte das Wort Geschichte seit je auch die
034 Gegenwart und Zukunft. Doch selbst diese Deutung ändert wenig
035 an der Problematik des Begriffes " Zeit-Geschichte " im
036 Sinne des Gegenwärtigen und der Vergangenheit.
037 Geschichtswissenschaft denkt mit der Gegenwart, aber sie hält
038 sich an die überschaubare Vergangenheit, ja, mehr noch: setzt
039 sie voraus. Immer bleibt historische Forschung an die
040 Vergangenheit gebunden, weil anders gediegene Geschichtsschreibung
041 nicht glücken kann. Das gilt auch für die Zeitgeschichte, wenn
042 sie durch Leistungen überzeugen soll. Es hat nicht an Versuchen
043 gefehlt, dem Begriff " Zeitgeschichte " zu entrinnen. Als
044 Ersatz schlug man vor: Gegenwartsgeschichte, zeitgenössische
045 Geschichte, laufende Geschichte und Geschichte unserer Zeit.
046 Doch zumeist spiegelten auch diese Begriffe nur das Dilemma, das
047 sie überwinden sollten. " Gegenwartsgeschichte " wäre eher noch
048 problematischer als " Zeitgeschichte ". Wohl verdeutlichte
049 gerade dieser Begriff die Wechselwirkung von Geschichte und
050 Gegenwart, die alle Historie kennzeichnet und beherrscht.
051 Verpflichtet indes den Historiker nicht auch hier die
052 Vergangenheit, also die " Nicht-mehr-Gegenwart "?
053 Kaum besser steht es um die " zeitgenössische " oder " laufende "
054 Geschichte. Während bei " zeitgenössischer " Geschichte
055 die Gefahr eines allzu eingeengten Blickes drohte, scheint
056 " laufende " Geschichte erst recht ein Widerspruch in sich selbst
057 und zudem nicht definierbar zu sein. Vielleicht entspräche
058 " laufende Geschichte " der " Current History " oder den
059 " Current Events ", angelsächsischen Wortschöpfungen, die
060 besagen wollen, daß das politisch-historische Geschehen
061 unmittelbar zu kommentieren sei; aber auch mit " laufender
062 Geschichte " würde kaum die Aufgabe bezeichnet, die auf den
063 Forscher der Zeitgeschichte wartet. Am ehesten taugte
064 schließlich noch " Geschichte unserer Zeit ". Dieser Begriff
065 deklariert Zeitgeschichte als Epochengeschichte; er klammert sich
066 nicht an unser Jahrhundert, er sucht an die wahren Ursprünge der
067 " Geschichte unserer Zeit " zu erinnern. Doch obgleich er ein
068 zureichendes zeithistorisches Bewußtsein fördern und eine -
069 dringend nötige - Neueinteilung der Geschichte bewirken wollte,
070 traf er auf Skepsis und Ablehnung. Offenbar traute man sich nicht
071 zu, unsere Zeit in anspruchsvoller Weise zu bestimmen. So kam
072 man auf das Wort Zeitgeschichte zurück. Wenngleich es Notbehelf
073 blieb und der Logik spottete: inzwischen hat es Schule gemacht
074 und ein fraglos gewordenes Eigenleben angenommen. Wie der Begriff
075 Zeitgeschichte, so ist der Zeitraum umstritten, der zu ihr
076 gehören soll. Das zeigt bereits ein Blick auf Frankreich und
077 England. " Histoire Contemporaine " setzt 1789 ein: für
078 Frankreich beginnt mit der Großen Revolution die Geschichte
079 unserer Zeit. " Contemporary History " dagegen hebt 1832 an:
080 in der ersten umwälzenden Parlamentsreform dieses Jahres erblickt
081 der Engländer den Auftakt zu seiner Zeitgeschichte. " Histoire
082 Contemporaine " und "Contemporary History " reichen bis in die
083 Gegenwart. Ihre Definitionen haben gute Gründe; doch sie
084 holen weit aus und beanspruchen Jahrhunderte als Epochengeschichte.
085 Vor solch einer Kühnheit schien man in Deutschland
086 zurückzuschrecken. Zeitgeschichte, wie wir sie verstehen, setzt
087 mit dem Jahr 1917 ein. Konrad Barthel nennt sie die
088 " Geschichte der jüngsten Vergangenheit, soweit sie unmittelbar die
089 Geschichte der heute Lebenden bestimmt ". Für Hans Rothfels
090 stellt Zeitgeschichte " die Epoche der Mitlebenden und ihre
091 wissenschaftliche Behandlung " dar. Man hat den Beginn der
092 Zeitgeschichte nicht willkürlich festgesetzt. In das Jahr 1917
093 fallen zwei Ereignisse, die zu einem entscheidenden Einschnitt
094 geworden dind: die Vereinigten Staaten treten in den Ersten
095 Weltkrieg ein, Rußland erlebt seine Oktober-Revolution.
096 Die Szene der Geschichte wird universal; Europas Gewicht
097 schrumpft, seine Stellung wandelt sich. Nicht nur die Existenz
098 der Nationalstaaten, auch die nationale Loyalität wird
099 erschüttert. Totalitäre Ideologien erzwingen
100 Bürberkriegsfronten, die Völker und Mächte durchziehen. Der
101 Zweite Weltkrieg besiegelt, was der Erste einleitete: die
102 Vereinigten Staaten und die Sowjetunion rücken zu Supermächten
103 auf. Beide machen Europa zum Satelliten. Beide sprengen - ob
104 nun durch ihre Weltanschauung oder Gesellschaftsform - die
105 Grenzen, in denen sich die Nationalstaaten eingerichtet hatten.
106 Der Zusammenbruch des Kolonialismus setzt den Schlußpunkt: er
107 beendet die imperialistische Ära Englands, Frankreichs und
108 Hollands; unwiderruflich folgt ihm ein globales System
109 internationaler Politik. All das sind wesentliche Kriterien für
110 den Zeitraum der Zeitgeschichte, aber reichen sie aus, ihn
111 zureichend zu charakterisieren? Einwände und Zweifel blieben
112 nicht aus. Gewiß hat unsere Beschreibung ergeben: die
113 Geschichte unserer Zeit oder auch der Gegenwart weist spezielle
114 Züge auf; sie offenbart Strömungen und Tendenzen, mit denen
115 man sie von vorausgehenden Perioden abzuheben vermag. Doch ihren
116 eigentlichen Anfang wird man mit der Französischen
117 Revolution ansetzen. Diese Revolution wurde, so scheint es, zu
118 einer vielleicht noch tieferen Zäsur als das Jahr 1917: sie
119 trennt die frühere Neuzeit von unserer Zeit; sie hat die
120 Probleme geschaffen oder möglich gemacht, die nicht zuletzt zu
121 Problemen unserer Gegenwart geworden sind. Auch Imperialismus,
122 industrielle Revolution und sozialistische Bewegung - Gewalten
123 und Kräfte, die wie kaum andere den Umbruch zur Zeitgeschichte
124 erzwangen - stellen keine Produkte des Ersten Weltkrieges dar;
125 sie entstammen dem 19.Jahrhundert und sind ohne dessen
126 Geschichte nicht zu verstehen. Nicht minder bereitete sich
127 Europas Niedergang und mit ihm ein globales System internationaler
128 Politik früher als 1917 vor. Hier hätte man Anlaß genug, eher
129 das Jahr 1890 als Wegscheide zu wählen. Umgekehrt: endete 1917
130 die Epoche der Nationalstaaten und der Nationalstaatlichkeit?
131 Asien und Afrika verneinen die Frage: ihre Staaten schwören
132 auf einen Nationalismus, den Europa weithin zu verabschieden hatte.
133 Und die Suprematie der Vereinigten Staaten und Sowjetunion?
134 Denkt man an den Aufstieg Chinas und der sogenannten Dritten
135 Welt, scheint auch sie kaum noch gültig zu sein. Dieses für und
136 Wider muß verwirren, aber es bezeugt nur, daß Geschichte kaum
137 überzeugend periodisiert werden kann. Eindeutige Trennungslinien
138 gibt es nicht. Stets trifft man auf Reste, die sich dem Schema
139 versagen. Auch unsere Welt wurde - um mit Worten des britischen
140 Historikers Barraclough zu sprechen - im Schatten der alten reif.
141 Auch sie hatte Umwege einzuschlagen, ja, mehr noch:
142 Gegenkräfte und " rückläufige " Bewegungen zu ertragen, die
143 dazu überreden könnten, ihren Anfang in die allerjüngste
144 Vergangenheit zu verlegen. Zwei Beispiele: 1.Obgleich das
145 19.Jahrhundert auf Liberalismus, Demokratie und Sozialismus
146 abzielte, vermochte es weder die Monarchie noch
147 Ordnungsvorstellungen des Konservativismus zu entmachten. 2.
148 Mit dem Ausgang des Ersten Weltkrieges schien Europa seine
149 eigenständige Größe eingebüßt zu haben. Aber nicht nur fielen
150 Amerika und Rußland in einen unvorhergesehenen Isolationismus
151 zurück, Europa rettete seine Nationalstaatlichkeit und suchte
152 seine frühere Stellung zurückzugewinnen. Wohl wurden
153 Nationalsozialismus und Faschismus, die vorgaben, für Europa zu
154 kämpfen, zu politischen Totengräbern des alten Kontinents.
155 Weit gefährlicher als alle revolutionären antieuropäischen
156 Kräfte, zwangen sie die Westmächte, ihr gesamtes Potential
157 gegen das imperialistische Deutschland und Italien zu mobilisieren.
158 Das schwächte England und Frankreichs Positionen in Asien,
159 förderte Japans Großmachtstreben und beschleunigte das Aufkommen
160 eines globalen Systems internationaler Politik. 1939 aber schien
161 Europa wieder dort angelangt, wo es bereits 1914 gestanden hatte.
162 Erst mit dem Ende des Zweiten Weltkrieges wurde sein Niedergang
163 allen offenbar. Hielte man sich an dieses Kriterium, dürfte die
164 Zeitgeschichte nicht vor 1945 beginnen. Vielleicht hätte man gut
165 daran getan, sich auf einen allseits gültigen Zeitraum der
166 Zeitgeschichte zu einigen. Dabei wäre man auch genötigt gewesen,
167 die neuere Geschichte schlüssiger als bisher zu periodisieren.
168 Derartige Versuche sind indes unterblieben oder mißglückt. So
169 haben wir uns an den Einschnitt von 1917 zu halten: er bindet die
170 Zeitgeschichte in Deutschland; seine Vorzüge dürften auch die
171 meisten Nachteile aufwiegen. Gewiß müssen wir bei dieser Zäsur
172 verdeutlichen, daß unserer Zeitgeschichte eine Vorgeschichte
173 vorangeht. Wo sich die Möglichkeit bietet, sollte sie in
174 Forschung und Lehre berücksichtigt werden. Damit weitete sich
175 nicht nur der Blick für entscheidende Zusammenhänge, zugleich
176 würde für die Zeitgeschichte mehr Vergangenheit und Distanz
177 gewonnen. Oft aber prägt sich erst mit dem Ersten Weltkrieg aus,
178 was zuvor nur Vorbereitung oder Bruchstück war. Ferner vermag
179 keine Gegenbewegung den Einschnitt von 1917 ernstlich anzutasten.
180 Wenn auch Europa seinen sichtbaren Niedergang hinauszuzögern
181 verstand: Versailles und dessen Folgen leiteten ihn immer
182 vehementer ein. Asiens und Afrikas später Nationalismus ist
183 weder zu beschönigen noch abzuschwächen, aber verhinderte er jenes
184 globale System internationaler Politik, das zu einem wesentlichen
185 zeitgeschichtlichen Kriterium wurde? Er hat es eher gefördert
186 als aufgehalten. Auch die Weltmächte USA und Sowjetunion
187 wissen noch immer ihre Suprematie geltend zu machen. Mag sie ein
188 neuer Kräfte-Pluralismus in Schranken verweisen: Europa,
189 ihr Büttel und Pfand, ist zwischen ihnen geteilt geblieben.
190 Zeitgeschichte seit 1917 darf sich auf objektive Kriterien berufen;
191 für sie bleibt gültig, was bereits dargelegt wurde. Sie
192 handelt vom Wandel der Stellung Europas in der Welt, von
193 tiefgreifenden Umwälzungen in der nationalen und internationalen
194 Gesellschaftsordnung, vom Aufstieg der Vereinigten Staaten und
195 Sowjetunion, Asiens und Afrikas, dem neuen Verhältnis zwischen
196 weißen und farbigen Völkern, vom Bündnis zwischen Wissenschaft
197 und Technologie, von der strategischen und atomaren Revolution;
198 sie wurde - nach einer Definition von Hans Rothfels - zur
199 " Geschichte einer Epoche, die mit neuen Herausforderungen an uns
200 herantritt, mit einer Erschütterung gewohnter Zusammenhänge und
201 nationaler Loyalitäten, mit der Infragestellung einzelstaatlicher
202 Souveränität und dem Versuch föderaler Integrationen, mit dem
203 relativen Gewichtsverlust Europas und dem Ende aller
204 Kolonialpolitik, mit dem Ansteigen der Bevölkerungszahlen und
205 der Produktivkräfte bis zur Automation hin, mit dem Zerbrechen
206 alter künstlerischer Formen und mit den Experimenten neuen
207 Ausdrucks, mit den selbstzerstörerischen Möglichkeiten von
208 Naturwissenschaft und Technik, ja mit Grenzsituationen
209 menschlicher Existenz überhaupt, wie mit Enthüllungen des
210 Unmenschlichen in bisher nicht erhörtem Maße ". Diese
211 Tendenzen haben sich nicht abgeschwächt; sie gelten mehr als je.
212 Spätestens mit dem Jahr 1960 zeigt sich: Asien und Afrika sind
213 zu emanzipierten, gleichberechtigten Mitspielern geworden; China
214 erstarkt zur Weltmacht und wagt die Weltmächte herauszufordern;
215 endgültig festigt sich ein globales System internationaler Politik.
216 Wohl kommt Europa ökonomisch auf, aber politisch hat es seine
217 einstige Bedeutung eingebüßt. Seit 1957 militärisch und
218 wirtschaftlich in Machtblöcke eingespannt, zählt es weniger als
219 zuvor. Alle Probleme seines Nationalismus, die einmal
220 Verwicklungen und Katastrophen heraufbeschworen, scheinen
221 überwunden; sie muten rückständig, wenn nicht gar unwirklich an.
222 Wichtiger als Deutschlands Wiedervereinigung sind Probleme
223 anderer Kontinente: so vor allem die Unterentwicklung und
224 Überbevölkerung, die am ehesten gewaltsame Konflikte auszulösen
225 drohen. Europa hat unwiderruflich aufgehört, Mittelpunkt der
226 Weltgeschichte zu sein. Allenfalls kann es noch zum
227 gleichberechtigten Partner gleichberechtigter Staaten und Nationen
228 aufsteigen. Möglich, daß wir eines Tages auch die
229 Zeitgeschichte neu periodisieren müssen. Noch aber besteht
230 nirgendwo Anlaß, die Kriterien zu widerrufen, mit denen der
231 Zeitgeschichte ihr Zeitraum zugewiesen wurde. Freilich: ihre
232 Forschungsfelder werden sich ändern. Mit den Jahren wird zur
233 " klassischen " Geschichtsschreibung, was zunächst die
234 zeithistorische Forschung beanspruchte. Noch halten sich deutsche
235 Historiker an die Weimarer Republik und an das Dritte Reich.
236 Doch schon verlangt die Zeit nach 1945 ihr Recht, ja, die
237 Zeitgeschichte muß sich, um das Geschichtsbild und die
238 Geschichtsschreibung vorzubereiten, bis an die Schwelle des
239 Jahrzehnts heranwagen, in dem wir leben. Stets rückt die
240 zeithistorische Forschung in neue Bereiche vor. Nur das
241 Zeitgeschehen, also die Noch-Gegenwart setzt ihr Grenzen.
242 Um so mehr darf sie in der Vergangenheit ausholen. Hier
243 entscheidet im besonderen die gewählte Fragestellung darüber, wie
244 weit man zurückblicken muß, um deuten oder erklären zu können,
245 was zur " Geschichte unserer Zeit ", zur " Geschichte der
246 jüngsten Vergangenheit " oder zur " Epoche der Mitlebenden "
247 gehört. Zeitgeschichte als Aufgabe? Es scheint, als sei es
248 das Vorrecht unserer Zeit gewesen, sie zu entdecken und als
249 Aufgabe bewußt werden zu lassen. Nichts wäre abwegiger als eine
250 solche Annahme. Daß Frankreich und England Zeitgeschichte seit
251 langem kennen, haben wir bereits erwähnt. Aber auch in
252 Deutschland ist der Begriff nicht unbekannt geblieben. Schon im
253 frühen 18.Jahrhundert stellt " Zeitgeschichte " die
254 Geschichte eines bestimmten Zeitraumes dar, wobei sie sich vor
255 allem auf die in ihm lebenden Persönlichkeiten bezieht (Paul E.
256 Geiger). Damit wird sie in dem Geist fortgesetzt, in dem
257 1602 Michael von Isselt aus Amersfort seine " Historia sui
258 temporis " schrieb. Später - für eine kurze Spanne von
259 Jahren - deckt sich " Zeitgeschichte " mit der Historia
260 chronologica: hier bezeichnet sie " die nach der Zeit geordnete
261 Geschichte ".
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