Quelle Nummer 098
Rubrik 33 : BELLETRISTIK Unterrubrik 33.08 : LITERARISCHE
UMSTURZ I.D. SCHWEIZ/DREI IDYLLEN/TASSEN IM SCHRANK
CHRISTOPH MANGOLD: UMSTURZ IN DER SCHWEIZ, S.60 F.
FRANZ HOLGER: DREI IDYLLEN, S.62
CHRISTA REINIG: TASSEN IM SCHRANK, S.63-65
BERND JENTZSCH: ES POLTERT, S.65 F.
TINTENFISCH 4, JAHRBUCH FUER LITERATUR, ED. MICHAEL
KRUEGER UND KLAUS WAGENBACH, BERLIN 1971
001 Drei Idyllen. Koblenz. In Koblenz fließen
002 Rhein und Mosel zusammen. Die Stelle heißt " Deutsches Eck "
003 und wird von einem unglaublich häßlichen Bunker dominiert, auf
004 dem die Worte stehen Nimmer wird das Reich zerstöret, Wenn
005 ihr einig seid und treu. Auf dem Bunker stand vormals eine
006 Reiterstatue, die aber inzwischen zerstöret wurde. Friedhof
007 Mitten in den Häusern von Schwabing ist ein Stück Hoffnung
008 ausgespart, der alte Nordfriedhof. Er ist schon längst nicht
009 mehr in Betrieb, aber man hat ihn stehengelassen, weil verwitterte
010 Marmorplatten und halb geneigte Grabsteine unter großen Weiden
011 etwas beruhigendes haben. Der Tod wirkt hier nicht mehr so frisch,
012 man hat das Gefühl, auch er sei vergänglich. Seine Opfer
013 sind zum Teil schon unleserlich geworden, beklagt werden sie von
014 niemandem mehr, nicht einmal die in Granit gehauene
015 Apothekenbesitzerswitwe. Das einjährige Weinhändlerskind wäre
016 jetzt 104 Jahre alt, wahrscheinlich ist es doch besser, es ist
017 gestorben. Oder der unaufhaltsame Aufstieg der Familie Moser,
018 dargestellt auf einer Grabplatte in 6 Abschnitten: Frau
019 Moser Forstratsgattin Frau Moser Oberforstratsgattin
020 Frau Moser Prakt. Arztgattin Frau Moser
021 Professorsgattin. Intermezzo: Ein kleiner Moser stirbt als
022 Hauptlehrerssöhnchen Frau Moser Regierungsgattin. Und
023 alle wollen in den Himmel. Tassen im Schrank. *bm
024 " Diese Reinig hat ja nicht alle Tassen im Schrank. " *em Nun
025 gut, an die Kanonade von Valmy kann ich mich nicht mehr erinnern,
026 aber ich war dabei, als die Redensart von den " Tassen im
027 Schrank " geboren wurde, und ich kann sagen, ich habe daran
028 mitgewirkt. Damals war ich Lehrling im Reichsnährstandsverlag
029 und hatte Adler und Schwert im Wappen und rundrum stand in
030 gotischen Lettern " Blut und Boden ". Nun verziehen Sie aber
031 ganz hübsch das Mäulchen, hi Pfui, diese Reinig. Seis drum.
032 Wir Lehrlinge, zwölf an der Zahl, gingen in die Berufsschule,
033 alle in dieselbe Klasse, und hatten mit Hilfe einer
034 Urkundenfälschung die Personalabteilung davon unterrichtet, daß
035 der Schulunterricht bis nachmittags um halb viere andauere. Der
036 Gedanke, daß wir eines Tages entlarvt, abgeholt und allesamt im
037 Konzertlager enden würden, erfüllte uns mit gruselndem
038 Entzücken. Wir Kinder wir! Jedenfalls hat die Aussicht auf
039 strenge Strafen verhindert, daß der Betrug je verraten wurde.
040 So verließen wir also zweimal wöchentlich um halb eins unsere
041 Schule, fuhren zum Alexanderplatz und wählten uns eines von den
042 fünfzig Tageskinos aus. Nach dem Film erschienen wir dann im
043 Betrieb, stürzten in die Kantine, wo uns um vier unser
044 Mittagessen nachgeliefert werden mußte. (Au waren die Köche
045 und Serviererinnen auf uns sauer). Die halbe Mittagsstunde, die
046 uns vertraglich zustand, dauerte bis kurz vor halb sechse, und wir
047 kamen mit knapper Not vor dem Klingeln an unserem Arbeitsplatz an.
048 Zweimal in der Woche. Dann aber machte sich der Krieg auch in
049 Berlin langsam breit. Die Kinder auf den Straßen riefen im
050 Chor: Lichterfelde - Trichterfelde, Charlottenburg -
051 Klamottenburg, Steglitz - Steht nix. Wir konnten auf dem
052 Stadtplan nachschauen, wann wir drankamen. Zuvörderst aber kam
053 der Alexanderplatz dran und alle unsere kleinen, dreckigen
054 Tageskinos, in denen man manchmal sogar noch einen Floh erwischen
055 konnte, verschwanden unter Kalkstaub und Brandgeruch. Wir liefen
056 auseinander. Nach der Schule ging jeder seiner Wege. Unser
057 Eintreffen in der Betriebskantine um vier Uhr war ein
058 Gewohnheitsrecht geworden. Wir mußten nicht mehr zusammenhalten.
059 In dicken Romanen lese ich manchesmal kopfschüttelnd nach, was
060 ich und meinesgleichen damals alles gedacht, gesagt, empfunden und
061 gelitten haben. Ich kann mich ziemlich genau erinnern: Ich habe
062 nur eines empfunden und gelitten, die Sorge, ob ich wohl Angst
063 haben würde, wenn ich plötzlich " im Feuer " stehe. Aus den
064 Jubelrufen meiner Mitlehrlinge und Schulkameradinnen: " Wir
065 sind ooch ausjebombt " und ihrer Erleichterung konnte ich hören,
066 daß es ihnen ähnlich gegangen war. Dann hatte auch ich meine
067 Bomben abbekommen und kein bißchen Angst empfunden und war
068 entsprechend aufgedreht. Ich war nun in der Obdachlosenunterkunft
069 und trug als neues Rangabzeichen den Suppenlöffel durchs
070 Mantelkragenknopfloch gesteckt. Vom dreckstarrenden Haarbusch bis
071 zu den bestaubten Turnschuhen muß ich wohl ausgesehen haben wie ein
072 verfrühter Hippie, von dem die letzte Blüte abgefallen ist.
073 Nur daß ich nicht nach Fusel und nach Pot duftete, sondern nach
074 Kalk und kaltem Rauch. Elfriede Natzel war noch ganz geblieben,
075 hatte aber in der Nachbarschaft löschen geholfen. Das galt als
076 Vorprobe, aber nicht als vollgültige Prüfung, weil ihre
077 Wohnung noch nicht kaputt gegangen war. Vera Nikolaus dagegen war
078 vom Krieg bisher übersehen worden und mußte ihrer Mutter
079 abwaschen helfen und war tief niedergeschlagen. Wir drei also
080 führen von der Schule aus zu Vera, um das Geschirr abzuwaschen.
081 Elfriede und ich setzten uns an den Küchentisch, betrachteten
082 Veras Fotosammlung, Mengen von Soldatenfreunden. Vera wusch
083 allein das Geschirr ab. Aus dem Gespräch entwickelte sich
084 alsbald ein Streit, Schimpfworte wechselten hinüber und herüber.
085 Das übliche " verrückt ", " bekloppt " war bald vertan.
086 Es kamen die anspruchsvollen intellektuellen Schöpfungen der
087 goldenen Zwanziger zur Sprache: " Du hast wohl nicht alle
088 Antennen am Sender ", " Deine Verstärkeröhre is jeplatzt ".
089 Dann ging uns die Munition aus. Ich ließ meine Augen
090 umherschweifen und ergriff, was ich gerade sah: Ich nannte Vera
091 einen " von Mäusen angeknabberten Küchenstuhl ", eine
092 " eingeweichte Tüllgardine ", eine " einzinkige Gabel ". Sie
093 durchschaute das System meiner Geheimwaffe und baute es nach, sie
094 bedachte die Feindseite, mich und Elfriede, als " einjährigen
095 Abreißkalender ", " von der Wand gefallene Geburtstagskarte "
096 und fing an, das Geschirr in den Schrank zu räumen. Da
097 überbrüllte uns Elfriede und gabs ihr: " Du hast ja nicht alle
098 Tassen im Schrank! " Was dann geschah, das weiß ich genau,
099 ich sehe sogar noch die mobilen Gegenstände von Veras Küche vor
100 mir, die wir im Übermut durch die Luft warfen und die
101 wunderbarerweise nicht entzweigingen. Wir lachten eine
102 unaufhörliche dreifache Narrenlache. Wir tobten in dem Raum
103 umher wie die Besessenen. Erst als wir uns beruhigt hatten,
104 unsere Mäntel nahmen und uns auf den Weg in den Betrieb machten,
105 konnten wir wieder artikulieren, und wir artikulierten im Takt
106 " Tassen im Schrank, Tassen im Schrank, du hast nicht al *st le
107 Tassen im Schrank, Tassenimschrank! " In unserer Klasse gab
108 es einige zwanzig Berufsschülerinnen, zwölfe, die stärkste
109 Minderheit vom Reichsnährstandsverlag, drei oder vier von der
110 Firma Rudolf Herzog, einige vom Kaufhaus Hertie, andere von
111 den Berliner Verkehrsbetrieben und der Deutschen Reichsbahn. So
112 verbreitete sich das Wort von den Tassen in der Textilbranche, in
113 den Großkaufhäusern, in Straßenbahnen und Omnibussen und fuhr
114 auf Reichsbahnschienen durchs Reich. Wir zwölf saßen in allen
115 Abteilungen des Verlages, eines Betriebs von fast zweitausend
116 Arbeitern und Angestellten. So ging das Wort durch alle
117 Abteilungen. Unsere Lehrmädchen meldeten sich oft freiwillig zur
118 Luftschutzwache und auch unsere französischen und belgischen
119 Fremdarbeiter meldeten sich ebenso oft und an denselben Nächten
120 freiwillig zur Luftschutzwache, so ging das Wort als Fremdwort in
121 den romanisch-burgundischen Kulturkreis ein. Der
122 Reichsnährstandsverlag hatte Dutzende Filialen in allen
123 Agrarhauptstädten des Großdeutschen Reiches, die westlichste in
124 Paris, die östlichste in Riga und nach dem Kriege zerstreuten
125 wir uns über die ganze Erde. Es poltert. Den ganzen Tag
126 ist Vorabend. Käthe schmeckt die Sülze ab, Jakob poliert
127 Gläser, Hedwig schreibt Tischkarten. Paul ist in Gedanken bei
128 uns. Wäre er nicht verunglückt, hätte ich Opi zu ihm zu sagen.
129 Zu Käthe soll ich Muttel sagen, zu Jakob einfach Vater, das
130 ist ihm am liebsten, zu Hedwig habe ich Omi zu sagen. Ich sage
131 Käthe, Jakob und Hedwig, so ist es mir am liebsten. Morgen
132 ist Hochzeit, heute ist der Vorabend, unser Polterabend. Um
133 sieben kommen sie, sagt Paola. Sie wird wahrscheinlich meine
134 Frau. Sie heißt nach Paul, zum Gedenken. Er ist seit
135 fünfundzwanzig Jahren tot. Ein Vierteljahrhundert, sagt Hedwig.
136 Käthe sagt dann gewöhnlich: Wo ist bloß die Zeit hin.
137 Jakob nickt ihr zu, so ist das Gedenken geregelt. Paul war
138 Dachdecker, er stürzte als Geselle von einem Walmdach. Er war
139 gleich tot, sagt Hedwig manchmal, zum Beispiel an seinem
140 Geburtstag. Zu einem Gesellen kann ich wirklich nicht Opi sagen.
141 Zu Paola sage ich Paola. Die Kinder werden zu ihr Mami oder
142 Mama sagen. Unterwegs ist nichts, unsere Hochzeit findet aus
143 freien Stücken statt. Den Termin hat Käthe festgesetzt. Es
144 ist der Tag, an dem Paul vor fünfundzwanzig Jahren vom Dach
145 stürzte. Es ist sogar auch ein Dienstag. Das kannst du doch
146 nicht machen, hat Hedwig anfangs eingewandt, aber Käthe
147 erwiderte: Man muß dem Schicksal ins Auge blicken. Jakob
148 nickte, erst zu Hedwig, dann zu Käthe. Paola wars
149 gleichgültig, mir auch. Als der Tag feststand, trafen wir
150 unsere Absprachen. Der Tischschmuck ist noch auszulegen, ich
151 lege den Tischschmuck aus. Ich habe fünfundzwanzig Teller,
152 Gläser und Bestecke zu umkränzen. Die Zahl soll an Paul
153 erinnern, er ist in Gedanken bei uns. Es fehlt eine Gabel. Ich
154 nehme sie mir aus dem Besteckkasten, der auf der Kredenz steht.
155 Was suchst du denn, fragt Käthe. Sie hat mir wieder eine
156 Kostprobe von der hausgemachten Sülze gebracht. Jetzt ist noch
157 eine Prise Majoran dran, sagt Käthe. Paola hat eine Gabel zu
158 wenig, sage ich. Käthe stopft mir einen Löffel Sülze in den
159 Mund und sagt: Nicht wahr, jetzt ist sie erst richtig. Ich
160 nicke, ich nicke beinahe schon wie Jakob. Käthe rauscht aus dem
161 Zimmer, sie ruft: Paola, gewöhn dir deine Schußlichkeit noch
162 vor der Hochzeit ab, mein Kind. Du bist und bleibst mein Kind,
163 und wenn du noch so alt bist. Paola ist dreiundzwanzig. Sie hat
164 die ganze Zeit Eiswürfel vorbereitet, sie steht vorm
165 Kühlschrank. Wir lächeln uns zu, für uns ist alles klar.
166 Hedwig hat fünfundzwanzig Tischkarten beschriftet, auf die
167 fünfundzwanzigste hat sie Onkel Doktor Johann geschrieben. Das
168 ist doch gut, findest du nicht auch, sagt sie, zwei Fliegen mit
169 einer Klappe. Ich runzle die Stirn, Hedwig erklärt mir die
170 zwei Fliegen. Ich runzle die Stirn, weil ich den Namenszug
171 nicht entziffern kann. Hedwig schreibt Sütterlin. Mein Gott,
172 sagt sie, wohin soll das führen, die jungen Leute können ihre
173 Muttersprache nicht mehr lesen. jakob wechselt nun eine Glühbirne
174 aus. Sie ist noch intakt, aber sie ist zu schwach. Er schraubt
175 eine Sechziger in die Stehlampe, die Fünfundzwanziger hat er
176 längst herausgeschraubt. Heute soll alles festlich sein, morgen
177 auch noch. Der Rauchtisch bietet dickflüssige bunte Liköre an.
178 Käthe hört sich schon kichern. Notfalls kann Jakob die
179 Glühbirne später zurückdrehen, Käthe hat es erwogen. Es muß
180 unauffällig und unter dem Schutz einer Lachsalve vorsichgehen.
181 Aber Jakobs Stimme ist zu tief. Die Lachsalve wird von Hedwig
182 ausgelöst; sie erzählt dann wieder, wie ihr Schulanfang in
183 Mutschen war. Käthe hat daran gedacht, daß Jakobs Stimme zu
184 tief ist: Du lachst nicht mit, sagt sie, du nickst bloß, bleib
185 du mal hübsch im Hintergrund. Sobald das hellblaue Strohhütchen
186 über Hedwigs Lippen kommt, muß Jakob den Arm anwinkeln. Das
187 ist kurz vor dem Höhepunkt, gleich galoppiert Lehrer
188 Wiesenhütters Gebiß ins Gras der Schulwiese. Dann ist das
189 Eis gebrochen, und die Weichteile wackeln. Paola verzieht keine
190 Miene und zupft am Tischgrün. Paola ist schwierig, denkt
191 Käthe. Ich sehe, wie die Weichteile wackeln und erinnere mich.
192 Der im Grunde auch, denkt Käthe. So wird es sein, und
193 unterdessen kann Jakob die Glühbirne zurückdrehen, eine
194 Vierteldrehung nach links. Es könnte uns so ergehen, doch zum
195 Glück hat alles geklappt. Ich erinnere mich doch ganz gut,
196 Käthe stand quer zum Glutos-Herd, als sie es sagte: Der
197 weibliche Körper hat empfindliche Weichteile, ich möchte nie
198 hören, daß du Paola auf Weichteile schlägst. Vom Tischgrün
199 bis zur Stromrechnung ist alles durchgerechnet. Der wundeste
200 Punkt ist die Sülze, sie gefährdet die Kalkulation. Käthe
201 reibt Muskatnuß auf einem Gewürzreibeisen, zwei Knöchel bluten
202 Zur Sülze auf dem Tisch soll ich nach dem ersten Bissen spontan
203 sagen: Sie schmeckt wunderbar. Oder: Sie ist dir wieder
204 wunderbar gelungen, ein Gedicht. Ich soll auch nicht Tisch sagen,
205 sondern Tafel. Heute ist alles festlich, morgen auch noch.
206 Halb acht soll ich zur Tafel bitten und die Sülze mit einem
207 Gedicht vergleichen. Gewöhn dir endlich Lebensart an, damit du
208 für Paola, die schwierig genug ist, ein Vorbild sein kannst.
209 Ich habe es genau gehört. Die Vorbereitungen dauern seit dem
210 frühen Morgen, nun steht alles am rechten Fleck. Ich gehe mich
211 umziehen, wie schnell ist es sieben. Um sieben kommen sie. Ein
212 Gepolter wird sie ankündigen, Töpfe und Teller, die außer
213 Dienst gesetzte Kaffeekanne. Es wird hoch hergehen vor der Tür
214 und in den Zimmern. Solche Abende sind nichts als heimliche
215 Abschiede von den Kindern. Wir wissen es durch Hedwig, sie hat
216 es oft genug prophezeit. Paola und ich sind seit Tagen zur Hand
217 gegangen, wir gönnen ihnen diese Freude von Herzen.
Zum Anfang dieser Seite