Quelle Nummer 087
Rubrik 04 : PSYCHOLOGIE Unterrubrik 04.01 : POPULAERWISSENSCHAFTLICH
KONKRET
ANONYMUS: DU UND DEINE KOMPLEXE, S. 22-26
KONKRET, NR.5, 26.2.1970
001 Du und Deine Komplexe. Haben Sie Komplexe?
002 Sind Sie sicher, daß Sie normal sind? Was wissen Sie von
003 Ihren unbewußten Regungen? Im letzten Jahr brauchten 40
004 Millionen Bundesbürger ärztliche Hilfe. Auf unseren Straßen
005 gab es 16000 Verkehrstote. Im selben Zeitraum registrierte die
006 Polizei 1,2 Millionen Straftaten. Mehr als 30000 Menschen
007 nahmen sich das Leben. Der Absatz von Körperpflegemitteln
008 steigerte sich um 15 %. Erstmals nach dem Kriege traten
009 Arbeiter massenhaft in den wilden Streik. Hat der Mehrverkauf
010 von Intimspray etwas mit der Selbstmordquote zu tun? Gibt es
011 einen Zusammenhang zwischen den Streiks und der Anzahl der
012 Verkehrsunfälle? So unglaublich es auch klingen mag: Zwischen
013 diesen Sachverhalten bestehen Zusammenhänge. Natürlich, es
014 wird nicht zum Selbstmörder, wer Intimspray kauft. Aber wir
015 wissen heute, daß sowohl der Kauf von Intimspray, das
016 Zustandekommen von Verkehrsunfällen, die Selbstmorde und die
017 Straftaten von Kräften aus dem Unbewußten gesteuert werden.
018 Nur ein Teil Ihrer Handlungen wird durch Sie selbst bestimmt.
019 Ein anderer Teil unterliegt einem aus dem Unbewußten kommenden
020 Zwang. Der Tiefenpsychologe Ingo Mummert berichtet hier über
021 den Befehl aus dem Unbewußten Teil 1 (Abb.) Der
022 unheimliche Zwang: Die Richterin, die Diebstähle beging.
023 Vor etwa zwei Jahren gab es in einer rheinischen
024 Kreisstadt einen Diebstahlsprozeß, der für die dortige Justiz
025 recht peinlich war. Zwar handelte es sich bei der Beute nur um
026 Waren im Werte von 15 DM, aber die Angeklagte war eine
027 Richterin. Im Verlauf der Verhandlung gab die Angeklagte 12
028 weitere Diebstähle im Verlauf von einem Jahr zu. Bei allen
029 Diebstählen hatte sie Gegenstände wie Ledersohlen,
030 Kontaktstecker u. ä. gestohlen, die für sie ohne jeden
031 Nutzen waren. Es ging ihr nicht um den Nutzen, und sicher ging
032 es ihr auch nicht um den Schaden, den sie anderen damit zufügte,
033 dazu war der Sachwert einfach zu gering. Aber worum ging es ihr?
034 Darüber konnte die Angeklagte nichts sagen. Sie konnte nur sagen,
035 daß sie von Zeit zu Zeit ein unüberwindlicher Drang zwinge,
036 etwas zu stehlen. Natürlich konnte sie nicht sagen, warum sie
037 dieser Trieb überkam. Das Gericht glaubte ihr, daß sie in
038 einem krankhaften Drang gehandelt hatte, aber es verurteilte sie,
039 wenn auch nur zu einer geringfügigen Strafe. Unsere Frage ist:
040 Wäre es ihr auch möglich gewesen, ihrem Drange nicht zu
041 folgen? Wohl kaum. Denn was sollte ausgerechnet eine Juristin,
042 die sich ja über die möglichen Folgen eines solchen Verhaltens im
043 klaren ist, veranlassen, ihren guten Ruf und ihren Beruf aufs
044 Spiel zu setzen, wenn es ihr auch möglich gewesen wäre, sich
045 anders zu verhalten. Man muß ihr schon glauben, daß sie wirklich
046 nicht wußte, warum sie es tat, aber dieses Nichtwissen ändert
047 nichts daran, daß es einen triftigen Grund für sie gab, es zu
048 tun. Da Menschen gar nichts tun, ohne in irgendeiner Weise ein
049 Bedürfnis zu befriedigen, muß es auch hier so sein, daß mit dem
050 Stehlen, und zwar nur mit dem Stehlen und nicht mit dem Gewinn,
051 ein Bedürfnis befriedigt wurde. Es ist auch klar, daß die
052 Befriedigung dieses ihr unbewußten Bedürfnisses für sie
053 außerordentlich wichtig war, wichtiger als das Bedürfnis nach
054 Sicherheit und sozialer Anerkennung, dessen Befriedigung sie ja
055 aufs Spiel setzte. Uns soll hier noch nicht interessieren,
056 welches Bedürfnis dies nun war - wir werden später darauf
057 zurückkommen -, sondern wie es kommt, daß Bedürfnisse
058 unbewußt werden, und wie es kommt, daß ihre Befriedigung eine
059 scheinbar unverhältnismäßige Wichtigkeit bekommt. Befehl
060 aus dem Unbewußten: Friß dich tot!. Vor einigen Jahren
061 lernte ich während der Ferien in Italien einen etwa
062 fünfzigjährigen Gerichtsvollzieher kennen. Er war mit seiner
063 Frau und seinen zwei Töchtern im gleichen Hotel abgestiegen, und
064 wir saßen zusammen am selben Tisch. Der Mann war liebenswürdig
065 und unauffällig bis auf einen Punkt: Er fraß wie ein
066 Scheunendrescher. Bei jeder Mahlzeit aß er mehr als das doppelte
067 von dem, was ich aß, obwohl er klein und schmächtig war. Eines
068 Tages erfuhr ich von seiner Frau, daß er schon zwei Herzinfarkte
069 hinter sich hatte und mit dem Essen sehr vorsichtig hätte sein
070 müssen. Sie hatte mir auch erzählt, daß die ganze Familie
071 schon eine Reiskur gemacht hatte mit dem Ergebnis, daß alle
072 erheblich abgenommen hatten, nur er nicht, weil er heimlich essen
073 gegangen war. An einem Nachmittag hatte ich mit dem besagten
074 Herrn ein aufschlußreiches Erlebnis. Wir lagen zusammen am
075 Strand und waren eingeschlafen. Plötzlich weckte er mich, man
076 sah ihm an, daß es ihm sehr schlecht ging. Er fragte mich, ob
077 ich etwas zu essen bei mir hätte, er müsse wieder zu Kräften
078 kommen. Ich hatte nichts bei mir, und so ging er zum nächsten
079 Stand, um sich einen ganzen Berg von Süßigkeiten zu kaufen,
080 die er dann buchstäblich verschlang, in der Hoffnung, wieder zu
081 Kräften zu gelangen. Dieser Akt des Fressens war für ihn mit
082 einer derartigen Befriedigung und Hoffnung begleitet, daß man es
083 einfach nicht übers Herz brachte, ihn auf die Gefahren seines
084 Verhaltens hinzuweisen. Man sah buchstäblich, wie er vermeinte,
085 im Akt des Fressens die Gefahren von sich abzuwenden. Derselbe
086 Mann hatte mir von seiner Krankheit berichtet, aber er hatte mir
087 auch von seiner Vergangenheit erzählt. Er war kleiner
088 Justizangestellter gewesen, Kind kleiner Leute, auf Grund
089 glücklicher Umstände und seines Fleißes hatte er es dann zum
090 Obergerichtsvollzieher gebracht. In seiner Kindheit und auch
091 später ist er nie satt geworden, und er hatte schon recht, daß
092 alle seine späteren Schwierigkeiten darauf zurückzuführen waren.
093 In seiner Kindheit hatte man ihm nicht genug Liebe gegeben, und
094 später war immer ein Mangel an Nahrung aufgetreten. Der Mangel
095 an Liebe hatte sich für ihn sehr früh mit dem Mangel an Nahrung
096 verbunden durch die zu frühe Entwöhnung von der Mutterbrust. So
097 war es nicht verwunderlich, daß dieser Mann, als er längst
098 imstande war, all seine Bedürfnisse zu befriedigen, auf diese
099 Bedürfnisse auswich, die während seiner frühen Kindheit nicht
100 befriedigt worden waren. Und dies sogar, obwohl er
101 vernünftigerweise einsehen konnte, daß dies seinen Tod
102 beschleunigen konnte. Dieser Mann hing sehr am Leben, aber das
103 half ihm nichts: Er starb noch während der Ferien. Natürlich
104 wußte dieser Mann genau, wie gefährlich es für ihn werden konnte,
105 wenn er immer wieder seinem Drang erlag. Sein Arzt hatte ihm
106 die Zusammenhänge genau erklärt und da er ein intelligenter Mann
107 war, konnte er diese Zusammenhänge auch verstehen. Es war ja
108 auch nicht so, daß er die Ratschläge seines Arztes einfach in
109 den Wind schlug. Nur in Konfliktsituationen, die er nicht
110 meistern konnte, oder bei Angstanfällen, die sich häufig als
111 Folge oder in Begleitung eines Herzanfalles einstellten, konnte
112 er seinem Drang zu essen nicht widerstehen. Es ist offenbar, daß
113 es diesem Mann nicht um den Genuß ging, sondern darum, sich mit
114 Nahrung Lebenskraft zuzuführen. Das führt uns auf die zweite
115 Frage. Es gibt eine offenbar natürliche Rangfolge von
116 Bedürfnissen. An erster Stelle stehen die biologischen
117 Bedürfnisse, man nennt sie auch die homöostatischen Bedürfnisse,
118 was soviel heißt wie die Bedürfnisse, die das biologische
119 Gleichgewicht des Organismus garantieren. Zu diesen gehören das
120 Bedürfnis nach Sauerstoff, Nahrung, Wasser, Bewegung sowie
121 nach sexueller Betätigung. Darüber hinaus nimmt man neuerdings
122 auch einen Grundtrieb nach Exploration, eine Art Erkundungstrieb
123 sowie ein Bedürfnis nach Schmerzvermeidung als biologische
124 Grundtriebe an. Über diesen Grundbedürnissen oder Trieben
125 stehen dann die Bedürfnisse nach Sicherheit, Geborgenheit und
126 Liebe, nach Geltung und schließlich nach Selbstverwirklichung.
127 Das gesamte System der Bedürfnisse muß man sich als Haus mit
128 verschiedenen Stockwerken vorstellen. Solange ein Stockwerk nicht
129 vollständig erbaut ist, kann kein höheres errichtet werden, ohne
130 daß das Haus wackelt. Es müssen also erst die biologischen
131 Grundbedürfnisse befriedigt sein, bevor sogenannte höhere
132 Bedürfnisse entstehen können. Sehr vieles spricht dafür, daß
133 diese Theorie stimmt, nach der man nur die Grundbedürfnisse der
134 Menschen befriedigen müßte, um sozial wichtige Bedürfnisse bei
135 ihnen zu wecken. Trotzdem spricht der Augenschein dagegen. So
136 verschiedenartig der Fall des Gerichtsvollziehers auch von dem der
137 Richterin erscheinen mag, so ist ihnen doch gemeinsam, daß beide
138 um die Gefährlichkeit ihres Handelns wissen, daß sie es trotzdem
139 tun müssen und daß sie nicht wissen, warum sie es tun. Vor
140 einigen Monaten wurde in Hamburg ein achtundzwanzigjähriger Mann
141 wegen Exhibitionismus zu mehreren Monaten Gefängnis verurteilt.
142 Er hatte an einem sonnigen Nachmittag auf Hamburgs belebtem
143 Jungfernstieg die Passanten und vorbeifahrenden Autofahrer
144 erschreckt, indem er mit steifem und entblößtem Penis auf und ab
145 gegangen war. Der herbeigerufenen Polizei erklärte er, er habe
146 unbedingt urinieren müssen. Bei dieser Aussage blieb er auch vor
147 Gericht. Natürlich glaubte man ihm nicht, sondern hielt seine
148 Aussage für eine Schutzbehauptung. Immerhin mag sie das
149 tatsächlich gewesen sein, es fragt sich dann nur, wovor sich
150 dieser Mann schützen wollte. Doch sicher nicht vor der drohenden
151 Strafe, die konnte er mit einer so durchsichtigen Ausrede nicht
152 abwenden, und es ist anzunehmen, daß er dies auch gewußt hat.
153 Es ist gut möglich, daß dieser Mann sich vor der Einsicht hat
154 schützen wollen, der die Richterin und der Gerichtsvollzieher
155 nicht ausweichen konnten, der Einsicht etwas Unvernünftiges zu
156 tun, mit dem sie nicht einverstanden waren, das sie aber doch tun
157 mußten. Bei den bisher geschilderten Fällen handelte es sich um
158 Verhaltensweisen, die vom Unbewußten gesteuert wurden und im
159 direkten Gegensatz zu den bewußten Zielsetzungen der Personen und
160 auch im Gegensatz zu elementaren Interessen lagen. Nicht immer
161 melden sich aber unbewußte Tendenzen in so auffälliger Form.
162 Wenn dies geschieht, so handelt es sich immer schon um eine
163 hochkrisenhafte Situation. In solchen Fällen kann es kein
164 geordnetes und produktives Verhalten der betroffenen Person mehr
165 geben. Vielmehr kommt es zu einem Kampf zwischen der Person und
166 dem abgespaltenen seelischen Element, und fast immer ist es die
167 Person oder das " Ich ", wie man in der Fachsprache sagt, das
168 diesen Kampf verliert. Aber nicht nur dieser Verlust an Freiheit
169 und Spontaneität, sondern noch viel mehr die für den Kampf
170 erforderliche Energie verbrauchen einen großen Teil der Kraft
171 dieser Person oder des Ichs, die es sonst zu Genuß und Arbeit
172 zur Verfügung gehabt hätte. Das Schicksal der Menschen -
173 ist der Mensch. Wie kommt es nun aber dazu, daß an sich
174 harmlose seelische Elemente eine solche Kraft gewinnen können,
175 die ausreicht, einen Menschen zu gefährden, ja bisweilen sogar zu
176 vernichten. Dies liegt daran, daß es keine Möglichkeit gibt,
177 einen Wunsch, ein Bedürfnis oder einen Trieb, Angst oder
178 Aggression - oder was auch immer an Seelischem in einem auftritt
179 - unbeachtet zu lassen. Tut man es dennoch gewaltsam - und es
180 gibt viele, scheinbar vernünftige Gründe dafür -, dann
181 verschwinden die abgewiesenen seelischen Elemente tatsächlich.
182 Aber sie verschwinden nur aus dem Bewußtsein, sie existieren von
183 nun an ohne jede Kontrolle im Unbewußten weiter. Jetzt aber
184 verfügen sie über ein ungeheures Energiepotential. Die
185 unterdrückten, nun unbewußten Strebungen können dem betreffenden
186 Menschen, aber auch seiner Umgebung, das Leben zur Hölle
187 machen. Unbewußte Inhalte können Krankheiten, Unfälle,
188 Straftaten, Ehedramen auslösen, sie können einfach all das
189 veranlassen, was man gemeinhin " böses Schicksal " nennt. Das
190 scheinbar von außen hereinbrechende Schicksal ist fast immer ein
191 Teil, wenn auch ein verborgener Teil der Person selbst.
192 Allerdings soll das nicht in die volkstümliche, aber falsche
193 Weisheit " jeder ist seines Glückes eigener Schmied " münden.
194 Es ist zwar richtig, daß jeder seine Abspaltungen, die dann zu
195 " Komplexen " wurden, irgendwann selbst gemacht hat, und
196 insofern, aber auch nur insofern ist er selbst daran beteiligt.
197 Eine andere Sache ist es mit der Einstellung, die ja auch
198 erforderlich ist, um bestimmte Regungen abzulehnen, andere zu
199 akzeptieren. Und diese Einstellungen werden von der Gesellschaft
200 über die Erziehung vermittelt und auch aufrechterhalten. Insofern
201 sind seelische Störungen nie aus dem Individuum allein, sondern
202 immer nur aus diesem und der Gesellschaft, in der es lebt,
203 deren Normen und Widersprüchen es ausgesetzt ist, zu beschreiben
204 und zu erklären. Sie spricht " Fehler ": Die Sache mit
205 dem Ausziehen. Nicht jeder befindet sich gleich in einer
206 krisenhaften Situation, aber es gibt auch harmlosere Situationen,
207 die wir alle erleben, etwa Konflikte, die man ungern löst. Auch
208 dann kommt es oft zu Aktionen des Unbewußten. Als ich vor
209 einigen Jahren im Stadtpark mit einigen Freunden einen
210 Spaziergang machte, fiel mir ein, daß ich schon seit geraumer
211 Zeit einer mir befreundeten Dame einen Besuch abzustatten hatte.
212 Ich hatte ihn immer wieder aufgeschoben und fürchtete, dies wieder
213 zu tun, wenn ich es nicht sofort tun würde. Da ich meine Freunde
214 nicht allein lassen wollte, schlug ich ihnen vor, mit mir gemeinsam
215 zu jener Dame zu gehen. Die Dame freute sich offenbar über
216 meinen Besuch, war aber doch recht irritiert über die vielen ihr
217 fremden Leute.
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