Kant: Briefwechsel, Brief 790, An Iohann Heinrich Tieftrunk. |
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An Iohann Heinrich Tieftrunk. | |||||||
11. Dec. 1797. | |||||||
Hochgeschätzter Freund! | |||||||
Zerstreut durch eine Mannigfaltigkeit von Arbeiten, die sich einander | |||||||
wechselseitig unterbrechen, ohne doch meinen letzten Zweck der Vollendung | |||||||
derselben vor dem Thorschluße aus den Augen zu verlieren, ist | |||||||
mir jetzt nichts angelegener, als die Stelle in Ihrem mir sehr angenehmen | |||||||
Briefe vom 5. Novbr. "wie der Satz der Critik d. r. V. S. 177 | |||||||
zu verstehen sei, der die Anwendung der Categorien auf Erfahrungen | |||||||
oder Erscheinungen unter sich vermittelt" von der ihr anhängenden | |||||||
Schwierigkeit befreit werden könne. - Ich glaube dieses jetzt auf eine | |||||||
Art thun zu können die befriedigend ist u. zugleich ein neues Licht | |||||||
über diese Stelle im System der Critik verbreitet; doch so daß Gegenwärtiges | |||||||
blos als roher Entwurf angesehen werden muß, u. seine | |||||||
Eleganz nur nachdem wir uns in einem zweiten Briefe einverständigt | |||||||
haben werden, erwartet. | |||||||
Der Begrif des Zusammengesetzten überhaupt ist keine besondere | |||||||
Categorie, sondern in allen Categorien (als synthetische Einheit | |||||||
der Apperception) enthalten. Das Zusammengesetzte nämlich kann, | |||||||
als ein solches, nicht angeschauet werden; sondern der Begrif oder | |||||||
das Bewußtsein des Zusammensetzens (einer Function die allen | |||||||
Categorien als synthetischer Einheit der Apperception zum Grunde | |||||||
liegt) muß vorhergehen, um das mannigfaltige der Anschauung gegebene | |||||||
sich in einem Bewußtsein verbunden, d. i. das Object sich als | |||||||
etwas Zusammengesetztes zu denken, welches durch den Schematism | |||||||
der Urtheilskraft geschieht indem das Zusammensetzen mit Bewußtsein | |||||||
zum innern Sinn, der Zeitvorstellung gemäs einerseits, zugleich | |||||||
aber auch auf das Mannigfaltige in der Anschauung gegebene Andererseits | |||||||
bezogen wird. - Alle Categorien gehen auf etwas a priori Zusammengesetztes | |||||||
und enthalten, wenn dieses gleichartig ist, mathematische | |||||||
Funktionen, ist es aber ungleichartig dynamische Functionen z.B. was | |||||||
die ersten betrifft: die Categorie der extensiven Größe betrifft: Eines | |||||||
in Vielen; was die Qualität oder intensive Größe betrifft Vieles in | |||||||
Einem. Ienes die Menge des Gleichartigen (z. B. der Quadratzolle | |||||||
in einer Fläche); dieses der Grad (z.B. der Erleuchtung eines Zimmers). | |||||||
Was aber die dynamische angeht, die Zusammensetzung des | |||||||
Mannigfaltigen, sofern es entweder einander im Daseyn untergeordnet | |||||||
ist (die Categorie der Causalität) oder eine der andern zur Einheit | |||||||
der Erfahrung beigeordnet ist (der Modalität als nothwendige | |||||||
Bestimmung des Daseins der Erscheinungen in der Zeit.) | |||||||
Herr M. Beck, den ich hierdurch freundlich von mir zu grüßen | |||||||
bitte, könnte also wohl auch hierauf seinen Standpunkt von den Categorien | |||||||
aus zu den Erscheinungen (als Anschauungen a priori) nehmen. | |||||||
- Die Synthesis der Zusammensetzung des Mannigfaltigen bedarf | |||||||
einer Anschauung a priori , damit die reinen Verstandesbegriffe ein | |||||||
Object hätten und das sind Raum u. Zeit. - Aber bei dieser Veränderung | |||||||
des Standpuncts ist der Begrif des Zusammengesetzten, der | |||||||
allen Categorien zum Grunde liegt, für sich allein sinnleer, d. i. man | |||||||
sieht nicht ein, daß ihm irgend ein Object correspondire: z. B. ob so | |||||||
etwas, das extensive Größe aber intensive (Realität) ist, oder, im | |||||||
dynamischen Fach der Begriffe, etwas was dem Begriffe der Causalität | |||||||
(einem Verhältniß durch seine Existenz der Grund der Existenz | |||||||
eines andern zu sein) oder auch der Modalität ein Object möglicher | |||||||
Erfahrung zu sein gegeben werden könne: weil es doch nur bloße | |||||||
Formen der Zusammensetzung (der synthetischen Einheit des Mannigfaltigen | |||||||
überhaupt) sind, und zum Denken, nicht zum Anschauen gehören. | |||||||
- Nun giebt es in der That synthetische Sätze a priori , denen | |||||||
Anschauung a priori (Raum u. Zeit) zum Grunde liegt; mithin denen | |||||||
ein Object in einer nicht=empirischen Vorstellung correspondirt (den | |||||||
Denkformen können Anschauungsformen unterlegt werden, die jenen | |||||||
einen Sinn u. Bedeutung geben.) - Wie sind diese Sätze nun möglich? | |||||||
- Nicht so: daß diese Formen des Zusammengesetzten in der | |||||||
Anschauung das Object wie es an sich selbst ist darstellen: denn ich | |||||||
kann mit meinem Begriffe von einem Gegenstand nicht a priori über | |||||||
den Begriff von diesem Gegenstande hinauslangen. Also nur so: da | |||||||
die Anschauungsformen nicht unmittelbar als objectiv sondern bloß | |||||||
als subjective Formen der Anschauung, wie nämlich das Subject, nach | |||||||
seiner besondern Beschaffenheit, vom Gegenstande afficirt wird d.i. wie | |||||||
es uns erscheint, nicht nach dem was er an sich ist (also indirect) | |||||||
vorgestellt wird. Denn wenn die Vorstellung auf die Bedingung der | |||||||
Vorstellungsart des Vorstellungsvermögens des Subjects bei den Anschauungen | |||||||
restringirt wird, so ist leicht zu begreifen wie es möglich | |||||||
ist a priori synthetisch (über den gegebenen Begriff hinausgehend) zu | |||||||
urtheilen u. zugleich daß dergleichen a priori erweiternde Urtheile auf | |||||||
andere Art schlechterdings unmöglich sind. | |||||||
Hierauf gründet sich nun der große Satz: Gegenstände der Sinne | |||||||
(des äußern sowohl als des innern) können wir nie anders erkennen | |||||||
als bloß wie sie uns erscheinen, nicht nachdem was sie an sich selbst | |||||||
sind: Imgleichen: übersinnliche Gegenstände sind für uns keine Gegenstände | |||||||
unseres theoretischen Erkenntnisses. Da aber doch die Idee | |||||||
derselben wenigstens als problematisch (quaestionis instar) nicht umgangen | |||||||
werden kann, weil dem sinnlichen sonst ein Gegenstück des | |||||||
Nichtsinnlichen fehlen würde, welches einen logischen Mangel der Eintheilung | |||||||
beweiset; so wird das letztere zum reinen (von allen empirischen | |||||||
Bedingungen abgelöseten) practischen Erkenntniß, für das Theoretische | |||||||
aber als transscendent betrachtet werden müßen, mithin die | |||||||
Stelle für dasselbe auch nicht ganz leer seyn. | |||||||
Was nun die schwierige Stelle der Critik S. 177 u.s.f. betrifft: | |||||||
so wird sie auf folgende Art aufgelöst. - Die logische Subsumtion | |||||||
eines Begrifs unter einem höheren geschieht nach der Regel der Identität: | |||||||
und der niedrigere Begriff muß hier als homogen mit dem | |||||||
höhern gedacht werden. Die transscendentale dagegen, nämlich die | |||||||
Subsumtion eines empirischen Begriffs unter einem reinen Verstandesbegriffe | |||||||
durch einen Mittelbegriff, nämlich den des Zusammengesetzten | |||||||
aus Vorstellungen des innern Sinnes ist unter eine Categorie subsumirt, | |||||||
darunter etwas dem Inhalte nach Heterogenes wäre, welches | |||||||
der Logik zuwider ist, wenn es unmittelbar geschähe, dagegen aber | |||||||
doch möglich ist, wenn ein empirischer Begriff unter einen reinen Verstandesbegriffe | |||||||
durch einen Mittelbegriff, nämlich den des Zusammengesetzten | |||||||
aus Vorstellungen des inneren Sinnes des Subjects, sofern | |||||||
sie den Zeitbedingungen gemäs, a priori nach einer allgemeinen Regel | |||||||
ein zusammengesetztes darstellen enthält welches mit dem Begriffe eines | |||||||
Zusammengesetzten überhaupt (dergleichen jede Categorie ist) homogen | |||||||
ist u. so unter den Namen eines Schema die Subsumtion der Erscheinungen | |||||||
unter dem reinen Verstandesbegriffe ihrer Synthetischen | |||||||
Einheit (des Zusammensetzens) nach, möglich macht. - Die darauf | |||||||
folgenden Beispiele des Schematismus lassen diesen Begriff nicht verfehlen. | |||||||
Und nun würdigster Mann breche ich hiermit ab, um die Post | |||||||
nicht zu verfehlen, schließe einige Bemerkungen die von Ihnen projectirte | |||||||
Sammlung meiner kleinen Schriften betreffend, an, - bitte | |||||||
HE. Professor Iacob für die Übersendung seiner Annalen zu danken | |||||||
mich bald wiederum mit Ihrer Zuschrift zu beehren u. die Langsamkeit | |||||||
meiner Beantwortung meinem schwächlichen Gesundheitszustande | |||||||
u. der Zerstreuung durch andere an mich ergehende Ansprüche zuzuschreiben; | |||||||
übrigens aber von meiner Bereitwilligkeit in Ihre thunlichen | |||||||
Plane einzutreten u. von der Hochachtung versichert zu sein, mit der | |||||||
ich jederzeit bin | |||||||
Ihr | |||||||
Königsberg | ganz ergebenster | ||||||
den 11ten Decbr. | I Kant. | ||||||
1797. | |||||||
* Sie werden hier die Flüchtigkeit [und Kürze] bemerken der in | |||||||
einem andern [Aufsatze wohl] nachgeholfen werden könnte. | |||||||
[ abgedruckt in : AA XII, Seite 222 ] [ Brief 789 ] [ Brief 791 ] [ Gesamtverzeichnis des Briefwechsels ] |