Kant: Briefwechsel, Brief 689, Von Sophie Mereau.

     
           
 

 

 

 

 

 
  Von Sophie Mereau.      
           
  [December 1795.]      
           
  Wenn ich auch nach dem Ausspruch meines eignen Gefühls den      
  Schritt welchen ich jetzt zu thun bereit bin, für gewagt erklären muss,      
  so finde ich doch nichts darinn wodurch wahre Schicklichkeit beleidigt      
  werden könnte. Ich weiss vielmehr dass wir bey Menschen höherer      
  Art die Fesseln jener leeren Convenienz, die sich in jedem Land verändert,      
  und die zwischen gemeine Menschen oft heilsame Schrancken sezt,      
  kühn zerbrechen können, und dass gebildetere Wesen sich an die Sache      
  selbst halten, wo jene ewig an der leeren Form hängen bleiben. Nach      
  dieser Voraussetzung glaube ich ohne Bedencken und ohne weitere Rücksicht      
  auf Entfernung, Geschlecht und Geistesverschiedenheit, mich selbst in      
  das gantz einfache Verhältniss einer Bittenden gegen Sie, verehrungswürdigster      
  Mann, versetzen zu dürfen.      
           
           
  Mit Hülfe einiger Freunde will ich mit dem neuen Iahr ein      
  Iournal anfangen, mehrere hiesige Schriftsteller wollen mir Beiträge      
  liefern. Bey einer solchen Unternehmung träumt wohl ein jeder, der      
  nicht lediglich für Gewinn schreibt, mehr oder weniger stolz. Ich      
  träumte sehr stolz, denn ich hielt es nicht für unmöglich Sie für mich      
  zu gewinnen. Etwas aus Ihren Papieren, was Sie vielleicht Kleinigkeit      
  nennen, einige hingeworfene Bemerckungen, denen Ihr Geist Licht      
  und Ihr Name Glantz verleiht, würden mich sehr glücklich machen      
  Können Sie, so unterstützen Sie meine Unternehmung - dringender      
  zu bitten, wage ich nicht, weil ich die zarte Linie die hier das Ungewöhnliche      
  vom Unbescheidenen trennt, zu überschreiten fürchte      
           
  Achten Sie es der Mühe werth, das Weib, welches Muth genug      
  hatte sich geradezu an Sie zu wenden, näher kennen zu lernen, so lesen      
  Sie das Buch, welches ich hier beilege. Dies ist der einzige Grund      
  der mich bewegen konnte, dem grossen Kant ein Geistesproduct darzubiethen,      
  dessen Fehlerhaftes ich selbst am lebhaftesten fühle      
           
  Mögte ich einer baldigen Antwort entgegen sehn dürfen! - Ich      
  habe mich zutrauungsvoll an Sie gewandt - Sie sind gewiss gut,      
  so groß u. berühmt Sie auch sind. Welche edle Humanität athmet      
  aus Ihrem ewigen Frieden! Welche Hofnungen wissen Sie in den      
  Herzen aller gutmüthigen Menschen zu entzünden! - Es hängt nur      
  von Ihnen ab, ob ich zu dem ernsten Gefühl von Ehrfurcht gegen Sie,      
  das ich mit Stolz in meiner Seele nähre, noch das süßere der Dankbarkeit      
  hinzufügen soll - Leben Sie wohl!      
           
  Mein Name ist: Professorin Mereau in Iena      
           
           
           
     

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