Kant: Briefwechsel, Brief 548, Von Salomon Maimon. |
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| Von Salomon Maimon. | |||||||
| Berlin 30 Nov. | |||||||
| 1792: | |||||||
| Würdigster Mann! | |||||||
| Obschon ich auf meine lezte zwei Briefe keine Antwort von Ihnen | |||||||
| erhalten habe, so soll dieses mich doch nicht abhalten, jezt da ich bloß | |||||||
| Belehrung von Ihnen erwarte, die Feder aufs neue zu ergreiffen. | |||||||
| Denn ausserdem daß Ihr Verfahren hierinn sich durch Ihr ehrwürdiges | |||||||
| der Welt so schäzbares Alter, und Ihren überhauften wichtigen | |||||||
| Geschäften, Ihre unsterblichen Arbeiten, der kritischen Forderungen | |||||||
| gemäß, zu vollenden [erklärt], so vermuthe ich noch eine Art des Misfallens | |||||||
| an mein[em] Verfahren, die ich mir erst jezt begreiflich machen | |||||||
| kann. | |||||||
| Der erste Brief betraf die von mir angestellte Vergleichung | |||||||
| zwischen Backons und Ihren unsterblichen Bemühungen um die | |||||||
| Reformation der Wissenschaften. Ich glaube nicht nur, sondern | |||||||
| bin völlig überzeugt, daß ich hierinn unparteisch verfahren bin; | |||||||
| obschon diese Vergleichung selbst in mancher Rücksicht, genauer und | |||||||
| ausführlicher hätte angestellt werden konnen. Ich bemerke darinn | |||||||
| daß beide Methoden zwar an sich einander entgegengesezt, da | |||||||
| aber beide zur Vollständigkeit unsrer wissenschaftlichen Erkenntniß unentbehrlich | |||||||
| sind. Die Eine nähert sich immer, durch eine imer | |||||||
| vollständigere Indukzion zu den durchgängig bestimmten nothwendigen | |||||||
| und allgemeingültigen Prinzipien, ohne sich Hofnung zu | |||||||
| machen sie auf diesem Wege, völlig zu erreichen. | |||||||
| Die Andere sucht diese Prinzipien in der ursprünglichen Einrichtung | |||||||
| unsres Erkenntnisvermögens, und stellet sie zum künftigen Gebrauch | |||||||
| auf; gleichfals ohne sich Hofnung zu machen, diesen Gebrauch | |||||||
| bis auf empyrischen Objekten (als solchen) auszudehnen. | |||||||
| Die kritische Philosophie ist, meiner Ueberzeugung nach (H. Reinhold | |||||||
| mag sagen was er will) durch Sie, so wohl als eine reine | |||||||
| Wissenschaft an sich, als eine angewendte Wissenschaft (wie | |||||||
| weit sich ihr Gebrauch erstrecket) schon vollendt. | |||||||
| Die Methode der Indukzion hingegen wird, bei all ihre Wichtigkeit | |||||||
| im praktischen Gebrauch nie als Wissenschaft vollendt werden. | |||||||
| In meinem zweiten Brief ausserte ich ein Misfallen an das Verfahren | |||||||
| des H. Pr. Reinhold. Dieser scharfsinnige Philosoph sucht | |||||||
| überall zu zeigen, daß Ihre Prinzipien nicht durchgängig bestimmt | |||||||
| und völlig entwickelt sind, und muß sich durch seine Bemühungen | |||||||
| diesem vermeinten Mangel abzuhelfen, im beständigen Zirkel | |||||||
| herumdrehen. | |||||||
| Sein Saz des Bewustseyns sezt schon Ihre Dedukzion voraus, | |||||||
| kann folglich nicht als ein ursprüngliches Faktum unseres Erkenntnisvermögens, | |||||||
| dieser Dedukzion zum Grunde gelegt werden; wie | |||||||
| ich dieses (Magazin zur Erfahrungsseelenkunde 9 Band. 3. Stück) gezeigt | |||||||
| habe. Auch jezt da ich den zweiten Theil seiner Briefe gelesen | |||||||
| habe, bemerke ich, daß sein Begrif von dem freien Willen auf das | |||||||
| allerunerklärbarste Indeterminismus führe. | |||||||
| Sie sezen die Freiheit des Willens in der hypothetisch angenommene | |||||||
| Kausalität der Vernunft. Nach ihm hingegen wäre die | |||||||
| Kausalität der Vernunft an sich Naturnothwendigkeit. Er | |||||||
| erklärt daher den freien Willen als "ein Vermögen der Person sich | |||||||
| selbst, in Rücksicht auf die Befriedigung oder Nichtbefriedigung des | |||||||
| eigennüzigen Triebs, der Forderung des Uneigennüzigen gemäß oder | |||||||
| derselben zuwider zu bestimmen." Ohne sich um den Bestimmungsgrund | |||||||
| im Mindstn zu bekümmern. Aber ich will Sie hiemit nicht | |||||||
| länger aufhalten. | |||||||
| Mein jeziger Wunsch gehet bloß dahin, eine Belehrung von | |||||||
| Ihnen zu erhalten, über den wichtigen Punkt ihrer transzendentalen | |||||||
| Aestätik, nämlich über die Dedukzion der Vorstellungen von Zeit | |||||||
| und Raum. Alles was Sie darinn gegen die dogmatische Vorstellungsart | |||||||
| anführen, hat mich völlig überzeugt. Es kann aber, wie | |||||||
| ich dafür halte, noch eine skeptische, sich auf psychologischen Gründen | |||||||
| stüzende Vorstellungsart gedacht werden, die auch von der Ihrigen in | |||||||
| etwas abweicht, obschon die daraus zu ziehenden Resultate vieleicht | |||||||
| von den Ihrigen nicht verschieden seyn möchten. | |||||||
| Nach Ihnen sind die Vorstellungen von Zeit und Raum Formen | |||||||
| der Sinnlichkeit d. h. nothwendige Bedingungen von der Art wie | |||||||
| sinnliche Objekte in uns vorgestellt werden. | |||||||
| Ich behaupte hin[ge]gegen (aus psychologischen Gründen) daß dieses | |||||||
| nicht allgemein wahr sey. Die einartigen sinnlichen Objekte werden | |||||||
| von uns unmittelbar weder in Zeit noch in Raum vorgestellt. Dieses | |||||||
| kann nur mittelbar durch Vergleichung derselben mit den verschiedenartigen | |||||||
| Objekten, mit welchen sie eben durch Zeit und Raum verknüpft | |||||||
| sind, geschehen. Zeit und Raum sind also keine Formen der | |||||||
| Sinnlichkeit an sich, sondern bloß ihrer Verschiedenheit. Die | |||||||
| Erscheinung des Rothen oder des Grünen an sich wird, so wenig als | |||||||
| irgend ein Verstandsbegrif an sich, in Zeit oder Raum vorgestellt. | |||||||
| Dahingegen das Rothe und das Grüne mit einander vergliechn, und | |||||||
| in einer unmittelbarn Koexistenz oder Sukzesion auf einander bezogen, | |||||||
| nicht anders als in Zeit und Raum vorgestellt werden können. | |||||||
| Zeit und Raum sind also keine Vorstellungen von den Beschaffenheiten | |||||||
| und Verhältnissen der Dinge an sich, wie schon die kritische | |||||||
| Philosophie gegen die dogmatische bewießen hat. Sie sind aber | |||||||
| eben so wenig Bedingungen von der Art wie sinnliche Objekte an | |||||||
| sich vor ihrer Vergleichung unter einander in uns vorgestellt werden, | |||||||
| wie ich schon bemerkt habe. Was sind sie also? Sie sind Bedingungen | |||||||
| von der Möglichkeit einer Vergleichung zwischen | |||||||
| den sinnlichen Objekten, d. h. eines Urtheils über ihr Verhältniß | |||||||
| zu einander. Ich will mich hierüber näher erklären. | |||||||
| 1.) Verschiedene Vorstellungen können nicht zu gleicher Zeit (in | |||||||
| eben demselben Zeitpunkt) in eben demselben Subjekt koexistirn. | |||||||
| 2.) Ein jedes Urtheil über das Verhältniß der Objekte zu einander | |||||||
| sezt die Vorstellung eines jeden an sich im Gemüthe voraus. Dieses | |||||||
| vorausgeschickt, so ergiebt sich diese wichtige Frage: wie ist ein Urtheil | |||||||
| über ein Verhältniß der Objekte zu einander möglich? | |||||||
| Ich nehme dieses an sich so evidente Urtheil z. B. das Rothe ist | |||||||
| vom Grünen verschieden. Diesem müßte die Vorstellung des | |||||||
| Rothen und des Grünen an sich im Gemüthe voraus gehen. Da aber | |||||||
| diese Vorstellungen in eben demselben Zeitpunkt, in eben demselben | |||||||
| Subjekt einander ausschließen, und das Urtheil sich doch auf beide zugleich | |||||||
| bezieht und beide im Bewustseyn vereinigt, so kann die Möglichkeit | |||||||
| desselben auf keinerlei Weiße begreiflich gemacht werden. Die | |||||||
| Zuflucht die einige Psychologen hier zu den zurückgelaßenen Spuren | |||||||
| nehmen, kann zu nichts helfen. Denn die zurückgelaßenen Spuren | |||||||
| verschiedener Vorstellungen konnen eben so wenig als diese Vorstellungen | |||||||
| selbst (wenn sie nicht in eine einzige zusammenfließen sollen) zugleich | |||||||
| im Gemüthe stat finden. | |||||||
| Dieses Urtheil ist also nur durch die Vorstellung einer Zeitfolge | |||||||
| möglich. | |||||||
| Zeitfolge ist schon an sich ohne Beziehung auf die darinn vorgestellten | |||||||
| Objekten, eine Einheit im Manigfaltigen. Der vorhergehende | |||||||
| Zeitpunkt ist, als ein solcher, vom Folgenden unterschieden. | |||||||
| Sie sind also nicht analytisch einerlei, und doch konnen sie nicht | |||||||
| ohne einander vorgestellt werden; d. h. sie machen zusammen eine | |||||||
| synthetische Einheit aus. Die Vorstellung einer Zeitfolge ist also | |||||||
| eine nothwendige Bedingung, nicht von der Möglichkeit der (wenn auch | |||||||
| sinnlichen) Objekten an sich, sondern der Möglichkeit eines Urtheils | |||||||
| über ihre Verschiedenheit, welche ohne Zeitfolge kein Gegenstand | |||||||
| unsrer Erkenntniß seyn kann. | |||||||
| Von der andern Seite aber ist widerum die objektive Verschiedenheit | |||||||
| eine Bedingung von der Möglichkeit einer Zeitfolge, | |||||||
| nicht bloß als Gegenstand unsrer Erkenntniß, sondern auch als Objekt | |||||||
| der Anschauung an sich (indem Zeitfolge nur dadurch daß sie Gegenstand | |||||||
| unsrer Erkenntniß wird, an sich vorstellbar ist). Die Form | |||||||
| der Verschiedenheit (wie auch die objektive Verschiedenheit | |||||||
| selbst) und die Vorstellung einer Zeitfolge stehen also in einer | |||||||
| wechselseitigen Verhältniß zu einander. Wäre das Rothe nicht vom | |||||||
| Grünen, als Erscheinung an sich, verschieden, so konnten sie von | |||||||
| uns nicht in einer Zeitfolge vorgestellt werden. Hätten wir aber | |||||||
| nicht die Vorstellung einer Zeitfolge, so konnten immer das Rothe | |||||||
| und das Grüne verschiedene Objekte der Anschauung seyn, wir konnten | |||||||
| aber sie nicht, als solche, erkennen. | |||||||
| Eben dieses Verhältniß findt auch stat zwischen der Form der | |||||||
| Verschiedenheit und der Vorstellung des Aussereinanderseyns | |||||||
| im Raume. Diese kann ohne daß jene in den Objekten anzutreffen | |||||||
| ist, nicht stat finden. Iene ist ohne diese für uns nicht erkennbar. | |||||||
| Die Verschiedenheit der ausseren Erscheinungen wird nur alsdann | |||||||
| in Zeit vorgestellt, wenn sie in Raum nicht vorgestellt wird, und | |||||||
| so auch umgekehrt. Eine und eben dieselbe sinnliche Substanz (dieser | |||||||
| Baum z. B.) wird nicht im Raume, sondern in der Zeit, als von | |||||||
| sich selbst verschieden (verändert) vorgestellt. Verschiedene sinnliche | |||||||
| Substanzn werden als solche nicht in der Zeit (indem das Urtheil | |||||||
| über ihre Verschiedenheit sie in eben demselben Zeitpunkt zusammenfasst) | |||||||
| sondern im Raume vorgestellt. | |||||||
| Die Form der Zeit kömmt also nicht allen Objektn der aussern | |||||||
| Anschauung ohne Unterscheid zu, sondern nur solchen die nicht in | |||||||
| Raum vorgestellt werden, und so auch umgekehrt, die Form des Raums | |||||||
| kömmt nur denjenigen aussern Objekten zu die nicht in Zeit (in einer | |||||||
| Zeitfolge, denn das Zugleichseyn ist, wie ich dafür halte, keine | |||||||
| positive Zeitbestimmung, sondern bloß Verneinung einer Zeitfolge) | |||||||
| vorgestellt werden | |||||||
| Diese Betrachtungen gränzen an meiner Erörterung der transzendentallen | |||||||
| Tauschungen (philosophisches Wörterbuch Art. Fikzion.) | |||||||
| deren Beurtheilung ich von Ihnen mit dem grösten Verlangen erwarte, | |||||||
| womit ich Sie aber hier nicht länger aufhalten will. | |||||||
| Würdigster Mann! Da die von Ihnen zu erwartende Beantwortung | |||||||
| dieses Schreiben[s] mir von der aussersten Wichtigkeit ist, | |||||||
| indem sie mir die skeptischen Hindernisse im Fortschritt des Denkens | |||||||
| benehmen, und eine bestimte Richtung verschaffen wird; da ich mein | |||||||
| ganzes Leben bloß der Erforschung der Wahrheit widme, und sollte | |||||||
| ich auch zuweilen auf Abwege gerathen, so sind doch wenigstens meine | |||||||
| Fehler einer Zurechtweißung werth; so bitte ich Sie ergebenst, ja | |||||||
| ich beschwöre Sie bei der Heiligkeit Ihrer Moral mir diese Beantwortung | |||||||
| nicht zu verweigern. In deren Erwartung ich verbleibe | |||||||
| mit den Gesinnungen der grösten Hochachtung und innigstn Freundschaft | |||||||
| Ihr Ergebenster | |||||||
| Salomon Maimon | |||||||
| P. S. Sollte Ihre Beantwortung auch nicht ausführlich geschehen, so | |||||||
| sind mir doch einige Fingerzeige von Ihnen wichtig genug. | |||||||
| Ihr Brief kann gradezu an mich adressirt werden. | |||||||
| [ abgedruckt in : AA XI, Seite 389 ] [ Brief 547 ] [ Brief 549 ] [ Gesamtverzeichnis des Briefwechsels ] |
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