Kant: Briefwechsel, Brief 500, An Iacob Sigismund Beck. |
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| An Iacob Sigismund Beck. | |||||||
| 20. Ian. 1792. | |||||||
| Werthester Freund | |||||||
| Ich habe Sie auf Ihren Brief vom 9ten Dec: vorigten Iahres | |||||||
| lange warten lassen, doch ohne meine Schuld, weil mir dringende Arbeiten | |||||||
| auf dem Halse lagen, das Alter mir aber eine sonst nicht gefühlte | |||||||
| Nothwendigkeit auferlegt, über einen Gegenstand, den ich bearbeite, | |||||||
| das Nachdenken durch keine allotria zu unterbrechen, bis ich | |||||||
| mit diesem zu Ende bin; weil ich sonst den Faden nicht mehr wohl | |||||||
| auffinden kan, den ich einmal aus den Händen gelassen habe. Künftig | |||||||
| soll es, wie ich hoffe, keinen so langen Aufschub mehr geben. | |||||||
| Sie haben mir Ihre gründliche Untersuchung von demjenigen | |||||||
| vorgelegt, was gerade das schweerste von der ganzen Critik ist, nämlich | |||||||
| die Analysis einer Erfahrung überhaupt und die Principien der | |||||||
| Möglichkeit der letzteren. - Ich habe mir sonst schon einen Entwurf | |||||||
| gemacht in einem System der Metaphysik diese Schwierigkeit umzugehen | |||||||
| und von den Categorien nach ihrer Ordnung anzufangen (nachdem | |||||||
| ich vorher blos die reine Anschauungen von Raum und Zeit, in | |||||||
| welchen ihnen Objecte allein gegeben werden, vorher exponirt habe, | |||||||
| ohne noch die Möglichkeit derselben zu untersuchen) und zum Schlusse | |||||||
| der Exposition jeder Categorie, z. B. der Qvantität und aller darunter | |||||||
| enthaltenen Pradicabilien, sammt den Beyspielen ihres Gebrauchs, | |||||||
| nun beweise: daß von Gegenständen der Sinne keine Erfahrung moglich | |||||||
| sey, als nur, so fern ich a priori voraussetze, daß sie ingesammt | |||||||
| als Größen gedacht werden müssen und so mit allen übrigen; wobey | |||||||
| dann immer bemerkt wird, daß sie uns nur als in Raum und Zeit | |||||||
| gegeben vorgestellt werden. Woraus dann eine ganze Wissenschaft | |||||||
| der Ontologie als immanenten Denkens d. i. desjenigen, dessen Begriffen | |||||||
| man ihre objective Realität sichern kan, entspringt. Nur nachdem | |||||||
| in der zweyten Abtheilung gezeigt worden, daß in derselben alle | |||||||
| Bedingungen der Moglichkeit der Objecte immer wiederum bedingt | |||||||
| seyn und gleichwohl die Vernunft unvermeidlich aufs Unbedingte | |||||||
| hinaus zu gehen antreibt, wo unser Denken transcendent wird, | |||||||
| d. i. den Begriffen derselben als Ideen die objective Realität gar nicht | |||||||
| verschafft werden und also kein Erkentnis der Objecte durch dieselbe | |||||||
| statt finden kan: in der Dialectik der reinen Vernunft (der Aufstellung | |||||||
| ihrer Antinomien) wollte ich zeigen, daß jene Gegenstände moglicher | |||||||
| Erfahrung als Gegenstände der Sinne die Objecte nicht als Dinge | |||||||
| an sich selbst, sondern nur als Erscheinungen zu erkennen geben und | |||||||
| nun allererst die Deduction der Categorien in Beziehung aus die sinnliche | |||||||
| Formen von Raum und Zeit als Bedingungen der Verknüpfung | |||||||
| derselben zu einer möglichen Erfahrung vorstellig machen, den Categorien | |||||||
| selbst aber als Begriffen Objecte überhaupt zu denken (die Anschauung | |||||||
| mag von einer Form seyn, welche sie wolle) dann den auch über die | |||||||
| Sinnengrentzen erweiterten Anfang, der aber kein Erkentnis verschafft, | |||||||
| ausmachen. Allein hievon genug. | |||||||
| Sie haben es ganz wohl getroffen, wenn Sie sagen: "Der Innbegrif | |||||||
| der Vorstellungen ist selbst das Object und die Handlung des | |||||||
| Gemüths, wodurch der Innbegrif der Vorstellungen vorgestellt wird, | |||||||
| heißt sie auf das Objekt beziehen" Nur kan man noch hinzufügen | |||||||
| wie kan ein Innbegrif Complexus der Vorstellungen vorgestellt werden? | |||||||
| Nicht durch das Bewustseyn, daß er uns gegeben sey; denn ein Innbegrif | |||||||
| erfordert Zusammensetzen ( synthesis ) des Mannigfaltigen. | |||||||
| Er muß also (als Inbegrif) gemacht werden und zwar durch eine | |||||||
| innere Handlung, die für ein gegebenes Mannigfaltige überhaupt | |||||||
| gilt und a priori vor der Art, wie dieses gegeben wird, vorhergeht | |||||||
| d. i. er kan nur durch die synthetische Einheit des Bewustseyns desselben | |||||||
| in einem Begriffe (vom Objecte überhaupt) gedacht werden und | |||||||
| dieser Begrif, unbestimmt in Ansehung der Art, wie etwas in der | |||||||
| Anschauung gegeben seyn mag, auf Object überhaupt bezogen, ist die | |||||||
| Categorie. Die blos subjective Beschaffenheit des Vorstellenden ist Subjects, | |||||||
| so fern das Mannigfaltige in ihm (für die Zusammensetzung | |||||||
| und die synthetische Einheit desselben) auf besondere Art gegeben ist, | |||||||
| heißt Sinnlichkeit und diese Art (der Anschauung a priori gegeben die | |||||||
| sinnliche Form der Anschauung. Beziehungsweise auf sie werden vermittelst | |||||||
| der Categorien die Gegenstände blos als Dinge in der Erscheinung | |||||||
| und nicht nach dem was sie an sich selbst sind erkannt; | |||||||
| ohne alle Anschauung werden sie gar nicht erkannt, aber doch gedacht | |||||||
| und wenn man nicht blos von aller Anschauung abstrahirt, sondern | |||||||
| sie sogar ausschließt, so kan den Categorien die objective Realität | |||||||
| (daß sie überhaupt Etwas vorstellen und nicht leere Begriffe sind) | |||||||
| nicht gesichert werden. | |||||||
| Vielleicht können Sie es vermeiden gleich anfänglich Sinnlichkeit | |||||||
| durch Receptivität, d. i. die Art der Vorstellungen wie sie im Subjecte | |||||||
| sind, so fern es von Gegenständen afficirt wird zu definiren und es | |||||||
| in dem setzen, was in einem Erkentnisse blos die Beziehung der Vorstellung | |||||||
| aufs Subject ausmacht, so, daß die Form derselben in dieser | |||||||
| Beziehung aufs Object der Anschauung nichts mehr als die Erscheinung | |||||||
| desselben erkennen läßt. Daß aber dieses Subjective nur die Art wie | |||||||
| das Subject durch Vorstellungen afficirt wird, mithin blos Receptivität | |||||||
| desselben ausmache, liegt schon darinn daß es blos die Bestimmung | |||||||
| des Subjects ist. | |||||||
| Mit einem Worte: da diese ganze Analysis nur zur Absicht hat | |||||||
| darzuthun: daß Erfahrung selbst nur vermittelst gewisser synthetischer | |||||||
| Grundsätze a priori möglich sey, dieses aber alsdann, wenn diese | |||||||
| Grundsätze wirklich vorgetragen werden, allererst recht faßlich gemacht | |||||||
| werden kan, so halte ich für rathsam, ehe diese aufgestellt werden, so | |||||||
| kurz wie möglich zu Werke zu gehen. Vielleicht kan Ihnen die Art | |||||||
| wie ich hiebey in meinen Vorlesungen verfahre, wo ich kurz seyn muß, | |||||||
| hiezu einigermaaßen behülflich seyn. | |||||||
| Ich fange damit an, daß ich Erfahrung durch empirisches Erkentnis | |||||||
| definire. Erkentnis aber ist die Vorstellung eines gegebenen | |||||||
| Objects als eines solchen durch Begriffe; sie ist empirisch, wenn das | |||||||
| Object in der Vorstellung der Sinne (welche also zugleich Empfindung | |||||||
| und diese mit Bewustseyn verbunden d. i. Wahrnehmung enthält) Erkentnis | |||||||
| aber a priori , wenn das Object zwar, aber nicht in der | |||||||
| Sinnenvorstellung (die also doch nichts desto weniger immer sinnlich | |||||||
| seyn kan) gegeben ist. Zum Erkentnis werden zweyerley Vorstellungsarten | |||||||
| erfordert 1) Anschauung wodurch ein Object gegeben und 2) Begrif | |||||||
| wodurch es gedacht wird. Aus diesen zwey Erkentnisstücken | |||||||
| nun ein Erkentnis zu machen wird noch eine Handlung erfordert: das | |||||||
| Mannigfaltige in der Anschauung gegebene der synthetischen | |||||||
| Einheit des Bewustseyns, die der Begrif ausdrückt, gemäs, zusammenzusetzen. | |||||||
| Da nun Zusammensetzung durch das Object oder die Vorstellung | |||||||
| desselben in der Anschauung nicht gegeben sondern nur gemacht | |||||||
| seyn kan so beruht sie auf der reinen Spontaneität des Verstandes | |||||||
| in Begriffen von Objecten überhaupt (der Zusammensetzung | |||||||
| des Mannigfaltigen gegebenen). Weil aber auch Begriffe, denen gar | |||||||
| kein Object correspondirend gegeben werden könnte, mithin ohne alles | |||||||
| Object nicht einmal Begriffe seyn würden (Gedanken durch die ich gar | |||||||
| nichts denke) so muß eben so wohl a priori ein Mannigfaltiges für | |||||||
| jene Begriffe a priori gegeben seyn und zwar, weil es a priori gegeben | |||||||
| ist, in einer Anschauung ohne Ding als Gegenstand d. i. in der | |||||||
| bloßen Form der Anschauung, die blos subjectiv ist (Raum und Zeit) | |||||||
| mithin der blos sinnlichen Anschauung, deren Synthesis durch die Einbildungskraft | |||||||
| unter der Regel der synthetischen Einheit des Bewustseyns, | |||||||
| welche der Begrif enthält, gemäs; da dann die Regel auf Warnehmungen | |||||||
| (in denen Dinge den Sinnen durch Empfindung gegeben | |||||||
| werden) angewandt, die des Schematismus der Verstandesbegriffe ist | |||||||
| Ich beschließe hiemit meinen in Eile abgefaßten Entwurf und | |||||||
| bitte Sich durch meine Zögerung, die durch zufällige Hindernisse verursacht | |||||||
| worden, nicht abhalten zu lassen Ihre Gedanken mir, bey jeder | |||||||
| Veranlassuung durch Schwierigkeiten, zu eröfnen und bin mit der vorzüglichsten | |||||||
| Hochachtung | |||||||
| Der Ihrige | |||||||
| [Koenigs]berg | I Kant | ||||||
| den 20 Jan: 1792. | |||||||
| N. S. Innliegenden Brief bitte doch sofort auf die Post zu | |||||||
| geben | |||||||
| [ abgedruckt in : AA XI, Seite 313 ] [ Brief 499b ] [ Brief 501 ] [ Gesamtverzeichnis des Briefwechsels ] |
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