Kant: Briefwechsel, Brief 451, Von Abraham Gotthelf Kästner. |
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Von Abraham Gotthelf Kästner. | |||||||
2. Oct. 1790. | |||||||
Wohlgebohrner Herr | |||||||
Verehrungswürdiger Herr | |||||||
Es ist eine starke Prüfung in praktischer Philosophie, der Ew. W. | |||||||
mich aussetzen: durch Ihre Zuschrift nicht stolz zu werden. | |||||||
Ew. W. tiefe Einsichten und Scharfsinnigkeit zu kennen und zu | |||||||
verehren habe ich schon in meinen jüngern Iahren viel Veranlassung | |||||||
gehabt. Bey Ew. W. spätern philosophischen Bemühungen, habe ich | |||||||
bedauert daß meine gegenwärtige Bestimmung mir nicht gestattet hat | |||||||
davon den Nutzen den ich wünschte mir zu verschaffen. | |||||||
In der Wolfischen Philosophie die ich in meiner Iugend lernte, | |||||||
fand ich doch die Gewißheit nicht die Wolf glaubte erreicht zu haben | |||||||
als ich mathematische Gewißheit kennen lernte. Vielleicht ging ich | |||||||
damahls in meiner Geringschätzung zu weit. | |||||||
Neuere philosophische Schriften, z. E. der Engländer die als grosse | |||||||
Beobachter gepriesen wurden, zu studiren machte mir das eben nicht | |||||||
Lust daß ich in einigen die ich las eben nichts fand das mir unbekannt | |||||||
war, oder das ich nicht wenn die Kenntniß davon mir wichtig schien, | |||||||
aus dem was ich zu wissen glaubte herzuleiten unternommen hätte. | |||||||
So bin ich nach und nach von dem eigentlichen Fleisse auf Philosophie | |||||||
angewandt sehr abgekommen und wage nicht darinn etwas zu beurtheilen | |||||||
So viel sah ich wohl, daß nach dem Verfall der Wolfischen | |||||||
Philosophie, eine aufstand die um gerade das Gegentheil von ihr zu | |||||||
seyn im geringsten nicht systematisch seyn wollte. Die schlechten | |||||||
Wolfianer, hiessen System: Definitionen und Beweise auswendig | |||||||
gelernt zu haben ohne sie recht zu verstehen, oder prüfen zu können: | |||||||
Ihre Verächter nannten eklektisch philosophiren, Worte ohne Erklärung, | |||||||
ohne bestimmte Begriffe brauchen Meynungen zusammentragen ohne | |||||||
zu untersuchen ob sie zusammen passen, und declamiren wo bewiesen | |||||||
werden soll | |||||||
Lessing war das letzte mahl auf seiner Rückreise auß der Pfalz | |||||||
hier, und bey unsern Gesprächen über die jzige Philosophie äuserte er | |||||||
die Hoffnung, es müsse damit bald anders werden, denn sie sey so | |||||||
seicht geworden daß die Seichtigkeit selbst bey Leuten die nicht viel | |||||||
Nachdenken anwenden wollen sich doch nicht in Ansehn erhalten könne. | |||||||
Ew. Wohlgeb. haben das grosse Verdienst die Erkänntniß dieser | |||||||
Seichtigkeit beschleunigt zu haben und die Philosophen auf Anstrengung | |||||||
des Verstandes, und zusammenhängendes Denken wiederum zu führen. | |||||||
Werden Ihre Bemühungen mißverstanden, so dächte ich, durch deutliche | |||||||
Erklärung und Bestimmung der Wörter und Redensarten liesse sich | |||||||
solches heben. Es ist freilich die Sitte der jzigen Schriftsteller, Wörter | |||||||
nachzubrauchen ohne recht zu wissen was sie bedeuten, ein Fehler über | |||||||
den man sonst bey dem gemeinen Mann lachte wenn der Französische | |||||||
Wörter mißhandelte aber jezo kann man ihn bey Gelehrten belachen. | |||||||
Und da ist dann natürlich, daß Leute über Wörter streiten mit denen | |||||||
sie nich die gehörigen Begriffe, manchmahl gar keine verbinden. Ew. | |||||||
W. haben einmahl ich glaube in der Berliner Monatsschrift eine vortreffliche | |||||||
Erläuterung gegeben was orientiren heißt. Wollten Sie dergleichen | |||||||
mit mehrern Modewörtern vornehmen so würden Sie sich um | |||||||
den jezigen philosophischen jargon viel Verdienst erwerben. Die | |||||||
Franzosen haben längst ihrem Witze die Freyheit gelassen ein auch | |||||||
längst bekanntes Wort, mit einem Nebenbegriffe zu brauchen den man | |||||||
aus der Art wie es gebraucht wird errathen soll, und vielleicht nicht | |||||||
ganz richtig erräth. Braucht nun ein Deutscher das Wort nach, | |||||||
natürlich in einem andern Zusammenhange als es zuerst gebraucht | |||||||
ward, so ist manchmahl die Frage was das Wort bedeutet eine unbestimmte | |||||||
Aufgabe. So haben die thierischen Magnetisirer von | |||||||
Desorganisiren, manipuliren . . . geschwatzt, und jezo ist Organisation, | |||||||
Manipulation, bey den Statistikern gewöhnlich da ich nicht verstehe | |||||||
was sie damit haben wollen. Soviel sehe ich wohl daß Frankreich | |||||||
durch die Manipulationen der Nationalversammlung ziemlich desorganisirt | |||||||
ist. | |||||||
Ew. Wohlgeb. stellen auch sehr oft den Philosophen das Verfahren | |||||||
der Mathematikverständigen zum Beyspiele vor, und werden mich also | |||||||
desto eher entschuldigen wenn ich mich nur auf dieses Verfahren mit | |||||||
dem ich am bekanntesten bin einschränke; allenfalls manchmahl die | |||||||
Philosophen frage ob sie es nicht auch so machen könnten? Daß es | |||||||
ganz angeht glaube ich nicht, weil die philosophischen Begriffe, nicht | |||||||
so leicht gestatten dem Verstande durch sinnliche Bilder zu Hülfe zu | |||||||
kommen. | |||||||
Zu der Aufstellung der Metaphysik im Zusammenhange, wünsche | |||||||
Ew. W. Leben und Gesundheit, und hoffe die Ausführung zum Vortheil | |||||||
der Wissenschaft. | |||||||
In einer Zeit, da die Philosophie Geschwätz geworden war, | |||||||
überhaupt alle Anstrengung des Verstandes vermieden ward, und die | |||||||
Gelehrten durch Schriften berühmt wurden, die man bey einer Pfeife | |||||||
Tabak verfertigen, lesen, und auch verbrauchen kann, gelang es Ew. | |||||||
W. auf tiefsinnige philosophische Untersuchungen Aufmerksamkeit zu | |||||||
erregen, und sie zu einer häufigen Beschäfftigung von Schriftstellern zu | |||||||
machen. Das ist sicher ein Umstand der Ew. W. besonders auszeichnet, | |||||||
und Sie in der Geschichte der Wissenschaften unvergeßlich machen wird. | |||||||
Ich verharre mit vollkommenster Hochachtung | |||||||
Ew. Wohlgebohren | |||||||
Göttingen 2 Octobr. 1790. | gehorsamster Diener | ||||||
A. G. Kästner | |||||||
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