Kant: Briefwechsel, Brief 430, Von Salomon Maimon. |
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| Von Salomon Maimon. | |||||||
| 15. Mai 1790. | |||||||
| Wohlgeborner Herr | |||||||
| Insonders hochzuehrender Herr Professor | |||||||
| Für das mir gütigst übersandte Geschenk Ihrer Schrift, der Kritik | |||||||
| der Urtheilskraft, woraus ich Ew Wohlgeborn freundschaftliche Gesinnung | |||||||
| gegen mich ersehe, welche mir sehr theuer ist, und worauf | |||||||
| ich stolz zu seyn Ursache habe, sage ich Ihnen den allerverbindlichsten | |||||||
| Dank. Ich habe zwar noch nicht Zeit gehabt, dieses wichtige Werk | |||||||
| durchzulesen, oder wie dies erforderlich ist, durchzudenken, sondern | |||||||
| es erst blos durchblättern können. Gleichwol aber bin ich durch | |||||||
| den Beyfall, welchen Sie dem H[of] R[ath] Blumenbach ertheilen, veranlaßt | |||||||
| worden, deßen vortrefliche kleine Schrift zu lesen: und hiedurch | |||||||
| ist bey mir ein Gedanke rege gemacht worden, der, wiewol er | |||||||
| nicht neu ist, doch paradox genug scheinen mag, nähmlich die Realität | |||||||
| der Weltseele bestimmen zu wollen, wovon ich mich erdreuste Ew Wohlgeborn | |||||||
| den Plan zur Prüfung vorzulegen. Ich kann zwar nicht ganz | |||||||
| genau bestimmen, was die Alten hiemit für einen Begriff verknüpften; | |||||||
| ob sie darunter Gott selbst, oder etwas was außer demselben ist, verstanden. | |||||||
| Demohngeachtet denke ich mir diesen Begriff folgendermaßen: | |||||||
| Die Weltseele ist eine der Materie überhaupt (dem Stoff aller reellen | |||||||
| Objecte) beywohnende und auf dieselbe würkende Kraft, deren Würkung | |||||||
| nach der verschiednen Modificierung der Materie verschieden ist. Sie | |||||||
| ist der Grund der besondern Art der Zusammensetzung in jedem (auch | |||||||
| unorganisirten), der Organisation in jedem organisirten Körper, des | |||||||
| Lebens im Thier, des Verstandes und der Vernunft im Menschen | |||||||
| usw; kurz sie gibt die Formen aller Dinge nach Beschaffenheit ihrer | |||||||
| Materie, so daß sie durch die eine Form die Materie zur Annehmung | |||||||
| einer andern Form von einer höhern Ordnung, geschickt macht. Und | |||||||
| da die Materie unendliche Modification annehmen kann, so kann diese | |||||||
| Entelechie auch unendlich verschiedne Formen liefern. Sie ist also der | |||||||
| Grund aller möglichen Würksamkeit. | |||||||
| Ich sehe nicht ein, was die neuern Philosophen habe bewegen können, | |||||||
| diese Meinung gänzlich zu verwerfen. Sollte es deßhalb geschehen seyn, | |||||||
| weil man von dieser Weltseele, als Objekt keinen Begriff hat? Wir haben | |||||||
| aber von unsrer eignen Seele eben so wenig einen Begriff. Oder fürchtet | |||||||
| man hier Spinozismus; so dünkt mich ist nach obiger Definition demselben | |||||||
| genugsam zuvorgekommen. Denn dem Spinozismus zufolge ist Gott | |||||||
| und die Welt ein und ebendieselbe Substanz. Iener Erklärung aber | |||||||
| zufolge ist die Weltseele eine von Gott erschaffne Substanz. Gott wird | |||||||
| als intelligentia pura extramundana vorgestellt. Diese Weltseele hingegen, | |||||||
| wird zwar als eine Intelligenz, aber als eine solche, welche mit | |||||||
| einem Körper (der Welt) in Verbindung steht, folglich eingeschränkt | |||||||
| und den Gesetzen der Natur unterworfen ist, vorgestellt. Als Ding | |||||||
| an sich kann man eben so wenig behaupten, daß es mehrere Substanzen, | |||||||
| als daß es nur eine einzige in der Welt gäbe. Als Phänomene | |||||||
| hingegen glaube ich aus guten Gründen für das letztere entscheiden | |||||||
| zu können. Denn a) die gänzliche Unterbrechung der Würksamkeit | |||||||
| der sogenannten Substanzen z E des Denkens im Schlafe | |||||||
| usw muß gegen die Substanzialität derselben ein Mißtrauen erregen. | |||||||
| Locke behauptet; die menschliche Seele denke nicht beständig, und führt | |||||||
| jene Unterbrechung als Beyspiel an. Leibnitz nimmt dieserwegen zu | |||||||
| den dunkeln Vorstellungen seine Zuflucht, und sucht derselben Realität | |||||||
| aus der Verbindung der auf die Unterbrechung folgenden Vorstellungen | |||||||
| mit den ihr vorhergehenden zu beweisen. Was sind aber diese dunkle | |||||||
| Vorstellungen anders, als bloße Dispositionen und zurückgelase[ne] | |||||||
| Spuren der die Ideen begleitenden Bewegungen in den Organe[n.] | |||||||
| Nach dem Begriff einer Weltseele hingegen läßt sich dieser Zusammenhang | |||||||
| auf eine faßliche Art erklären. Iede Bewegung in den Organen | |||||||
| wird von einer derselben entsprechenden Vorstellung begleitet, wozu | |||||||
| aber ein gewißer Grad der Intensität gehöret. Während des Schlafes | |||||||
| aber läßt diese Intensität nach. Diese Weltseele kann also alsdann | |||||||
| keine Vorstellungen bewürken. Beym Erwachen aber nimmt diese Intensität | |||||||
| wieder zu, so daß jene Bewegungen von denen ihnen entsprechenden | |||||||
| Vorstellungen begleitet werden. Und da die auf den Schlaf | |||||||
| folgenden Bewegungen mit den vor demselben hergehenden und während | |||||||
| deßelben fortdauernden Bewegungen, nach den Gesetzen der Natur, | |||||||
| in genauen Zusammenhang stehen, so muß dies auch bey den, diesen | |||||||
| Bewegungen entsprechenden Vorstellungen, stattfinden. b) Auch scheinet | |||||||
| die Natur der objektiven Wahrheit, die alle Menschen voraussetzen, die | |||||||
| Idee einer Weltseele nothwendig zu erfordern; woraus sich die Identität | |||||||
| der Formen des Denkens bey allen denkenden Subjekten, und die | |||||||
| Uebereinstimmung in den dieser Form gemäß gedachten Objekten erklären | |||||||
| läßt. c) Die Lehre von den Zwecken in der Natur (Teleologie) | |||||||
| scheint diese Vorstellung auch zu erfordern. Ich glaube nähmlich, da | |||||||
| ein Zweck nicht hervorgebracht, sondern durch etwas schon Hervorgebrachtes | |||||||
| erreicht wird. Die Formen halte ich daher für Zwecke der | |||||||
| Natur, welche durch die, auf eine bestimmte Art, nach mechanischen | |||||||
| Gesetzen, hervorgebrachte Objekte erreicht werden. Dies beweiset also | |||||||
| nothwendig das Daseyn eines allgemeinen Grundes der Verbindung | |||||||
| dieser Formen untereinander als besondere Zwecke zu einem Hauptzweck, | |||||||
| und der Uebereinstimmung der nach den Naturgesetzen hervorgebrachten | |||||||
| Objekte mit diesen Formen überhaupt: so daß man in | |||||||
| diesem Betracht die Formengebende Intelligenz mit der Gesetzgebenden, | |||||||
| und die mechanischen Gesetze der Natur mit der vollziehenden Macht | |||||||
| eines wohleingerichteten Staats vergleichen kann. | |||||||
| Dies sind ohngefähr mit kurzen Worten meine Gründe, welche ich | |||||||
| Ew Wohlgeborn zur Beurtheilung vorzulegen wage. Mit Ungeduld | |||||||
| erwarte ich Dero Entscheidung hierüber, und habe die Ehre zu verharren | |||||||
| Ew Wohlgeborn | |||||||
| Berlin | gehorsamster Diener | ||||||
| den 15t. May | Salomon Maimon | ||||||
| 1790. | |||||||
| [ abgedruckt in : AA XI, Seite 174 ] [ Brief 429 ] [ Brief 431 ] [ Gesamtverzeichnis des Briefwechsels ] |
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