Kant: Briefwechsel, Brief 362, An Marcus Herz.

     
           
 

 

 

 

 

 
  An Marcus Herz.      
           
  Koenigsberg d. 26 May. 1789.      
           
  Ich empfange jeden Brief von Ihnen, Werthester Freund, mit      
  wahrem Vergnügen. Das edle Gefühl der Dankbarkeit, für den gringen      
  Beytrag, den ich zu Entwickelung ihrer vortreflichen Naturanlagen      
  habe thun können, unterscheidet Sie von den meisten meiner Zuhörer;      
  was kan aber, wenn man nahe daran ist, diese Welt zu verlassen,      
  tröstender seyn, als zu sehen, daß man nicht umsonst gelebt habe, weil      
  man einige, wenn gleich nur wenige, zu guten Menschen gebildet hat.      
           
  Aber wo denken Sie hin, liebster Freund, mir ein großes Pak      
  der subtilsten Nachforschungen, zum Durchlesen nicht allein, sondern      
           
  auch zum Durchdenken, zuzuschicken, mir, der ich in meinem 66sten      
  Iahre noch mit einer weitläuftigen Arbeit meinen Plan zu vollenden      
  (theils in Lieferung des letzten Theils der Critik, nämlich dem der      
  Urtheilskraft, welcher bald herauskommen soll, theils in Ausarbeitung      
  eines Systems der Metaphysik, der Natur sowohl als der Sitten,      
  jenen critischen Foderungen gemäß,) beladen bin, der überdem durch      
  viele Briefe, welche specielle Erklärungen über gewisse Puncte verlangen,      
  unaufhörlich in Athem erhalten werde, und oben ein von immer wankender      
  Gesundheit bin. Ich war schon halb entschlossen das Mscrpt      
  so fort, mit der erwähnten ganz gegründeten Entschuldigung, zurük      
  zu schicken; allein ein Blick, den ich darauf warf, gab mir bald die Vorzüglichkeit      
  desselben zu erkennen und, daß nicht allein niemand von      
  meinen Gegnern mich und die Hauptfrage so wohl verstanden, sondern      
  nur wenige zu dergleichen tiefen Untersuchungen soviel Scharfsinn besitzen      
  möchten, als Hr. Maymon und dieses bewog mich, seine Schrift      
  bis zu einigen Augenblicken der Musse zurük zu legen, die ich nur      
  jetzt habe erlangen können, und auch diese nur, um die zwey erste      
  Abschnitte durchzugehen, über welche ich jetzt auch nur kurz seyn kan.      
           
  HEn Maymon bitte ich diesen Begrif zu communiciren. Es      
  versteht sich, wie ich denke, von selbst, daß er dazu nicht geschrieben      
  sey, um im Drucke zu erscheinen.      
           
  Wenn ich den Sinn derselben richtig gefaßt habe, so gehen sie      
  darauf hinaus, zu beweisen: daß, wenn der Verstand auf sinnliche      
  Anschauung (nicht blos die empirische, sondern auch die a priori) eine      
  gesetzgebende Beziehung haben soll, so müsse er selbst der Urheber, es      
  sey dieser sinnlichen Formen, oder auch sogar der Materie derselben,      
  d. i. der Obiecte, seyn, weil sonst das qvid iuris nicht Gnugthuend      
  beantwortet werden könne, welches aber nach Leibnizisch=Wolfischen      
  Grundsätzen wohl geschehen könne, wenn man ihnen die Meynung beylegt,      
  daß Sinnlichkeit von dem Verstande gar nicht specifisch unterschieden      
  wären, sondern jene als Welterkentnis blos dem Verstande      
  zukomme, nur mit dem Unterschiede des Grades des Bewustseyns, der      
  in der ersteren Vorstellungsart ein Unendlich-Kleines, in der zweyten      
  eine gegebene (endliche) Größe sey und daß die Synthesis a priori nur      
  darum objective Gültigkeit habe, weil der Göttliche Verstand, von dem      
  der unsrige nur ein Theil, oder, nach seinem Ausdrucke, mit dem      
  unsrigen, obzwar nur auf eingeschränkte Art, einerley sey, d.i. selbst      
           
  Urheber der Formen und der Möglichkeit der Dinge der Welt (an      
  sich selbst) sey.      
           
  Ich zweifle aber sehr, daß dieses Leibnitzens oder Wolfs Meynung      
  gewesen sey, ob sie zwar wirklich aus ihren Erklärungen von der      
  Sinnlichkeit im Gegensatze des Verstandes gefolgert werden könnte und      
  die, so sich zu jener Männer Lehrbegrif bekennen, werden es schwerlich      
  zugestehen, daß sie einen Spinozism annehmen; denn in der That ist      
  Hrn. Maymons Vorstellungsart mit diesem einerley und könte vortreflich      
  dazu dienen die Leibnizianer ex concessis zu wiederlegen.      
  Die Theorie des Hrn. Maymon ist im Grunde: die Behauptung      
  eines Verstandes (und zwar des menschlichen) nicht blos als eines      
  Vermögens zu denken, wie es der unsrige und vielleicht aller erschaffenen      
  Wesen ist, sondern eigentlich als eines Vermögens anzuschauen, bey      
  dem das Denken nur eine Art sey, das Mannigfaltige der Anschauung      
  (welches unserer Schranken wegen nur dunkel ist) in ein klares Bewustseyn      
  zu bringen: dagegen ich den Begrif von einem Obiecte      
  überhaupt (der im klärsten Bewustseyn unserer Anschauung gar nicht      
  angetroffen wird) dem Verstande, als einem besonderen Vermögen,      
  zuschreibe, nämlich die synthetische Einheit der Apperception, durch      
  welche allein das Mannigfaltige der Anschauung (deren jedes ich mir      
  besonders immerhin bewust seyn mag) in ein vereinigtes Bewustseyn,      
  zur Vorstellung eines Obiects überhaupt, (dessen Begrif durch      
  jenes Mannigfaltige nun bestimmt wird) zu bringen.      
           
  Nun frägt Hr. Maymon: Wie erkläre ich mir die Möglichkeit der      
  Zusammenstimmung der Anschauungen a priori zu meinen Begriffen      
  a priori , wenn jede ihren specifisch verschiedenen Ursprung hat, da dieselbe      
  zwar als Factum gegeben, aber ihre Rechtmäßigkeit oder die      
  Nothwendigkeit der Ubereinstimmung zweener so heterogenen Vorstellungsarten      
  nicht begreiflich gemacht werden kan und umgekehrt, wie      
  kan ich durch meinen Verstandesbegrif z. B. der Ursache, dessen Möglichkeit      
  an sich doch nur problematisch ist, der Natur, d. i. den Obiecten      
  selbst, das Gesetz vorschreiben, zuletzt gar, wie kan ich selbst von diesen      
  Functionen des Verstandes, deren Daseyn in demselben auch blos ein      
  Factum ist, die Nothwendigkeit beweisen, die doch vorausgesetzt werden      
  muß, wenn man ihnen Dinge, wie sie uns immer vorkommen mögen,      
  unterwerfen will.      
           
  Hierauf antworte ich: dies alles geschieht in Beziehung auf ein      
           
  unter diesen Bedingungen allein mögliches Erfahrungs=Erkentnis,      
  in subiectiver Rücksicht, die aber doch zugleich obiectiv gültig ist,      
  weil die Gegenstände nicht Dinge an sich selbst, sondern bloße Erscheinungen      
  mithin ihre Form, in der sie gegeben werden, auch von      
  nach dem was an ihr subiectiv, d. i. das Specifische unserer Anschauungsart      
  einerseits, und der Vereinigung des Mannigfaltigen      
  in ein Bewustseyn, d. i. dem Denken des Obiects und der Erkentnis      
  andererseits, von unserem Verstande abhängen, so daß wir nur      
  diesen Bedingungen von ihnen Erfahrung haben können, mithin,      
  wenn Anschauungen (der Obiecte als Erscheinungen) hiemit nicht zusammen      
  sie für uns nichts, d. i. gar keine Gegenstände der      
  weder von uns selbst, noch von anderen Dingen, seyn      
       
           
  solche Weise läßt sich gar wohl darthun: daß, wenn wir      
  Urtheile a priori fällen können, dieses nur von Gegenständen      
  Anschauung als bloßen Erscheinungen angehe, daß, wenn      
  wir auch einer intellectuellen Anschauung fähig wären (z. B., daß die      
  Elemente derselben Noumena wären) die Nothwendigkeit      
  Urtheile, nach der Natur unseres Verstandes, in dem ein      
  Begrif, als Nothwendigkeit ist, angetroffen wird, gar nicht statt      
  könnte; Denn es würde immer nur bloße Warnehmung seyn,      
  z. B. in einem Triangel zwey Seiten zusammengenommen größer      
  als die dritte, nicht daß diese Eigenschaft ihm nothwendig zukommen      
  Wie aber eine solche sinnliche Anschauung (als Raum      
  Zeit) Form unserer Sinnlichkeit oder solche Functionen des Verstandes,      
  deren die Logik aus ihm entwickelt, selbst möglich sey,      
  wie es zugehe, daß eine Form mit der Andern zu einem möglichen      
  zusammenstimme, das ist uns schlechterdings unmöglich      
  weiter zu erklären, weil wir sonst noch eine andere Anschauungsart,      
  die uns eigen ist und einen anderen Verstand, mit dem wir      
  Verstand vergleichen könnten und deren jeder die Dinge an      
  selbst bestimmt darstellete, haben müßten: wir können aber allen      
  nur durch unseren Verstand und so auch alle Anschauung      
  durch die unsrige beurtheilen. Aber diese Frage zu beantworten      
  auch gar nicht nöthig. Denn wenn wir darthun können, da      
  Erkentnis von Dingen selbst das der Erfahrung nur unter      
  jenen Bedingungen allein möglich sey, so sind nicht allein alle andere Begriffe      
           
  Dingen (die nicht auf solche Weise bedingt sind für uns      
  leer und können zu gar keinem Erkentnisse dienen, sondern auch alle      
  der Sinne zu einer möglichen Erkentnis würden ohne sie niemals      
  Obiecte vorstellen, ja nicht einmal zu derjenigen Einheit des Bewustseyns      
  die zum Erkentnis meiner selbst (als obiect des inneren      
  erforderlich ist. Ich würde gar nicht einmal wissen können,      
  ich sie habe, folglich würden sie für mich, als erkennendes Wesen,      
  nichts seyn, wobey sie (wenn ich mich in Gedanken zum      
  mache) als Vorstellungen, die nach einem empirischen Gesetze      
  Association verbunden wären und so auch auf Gefühl und Begehrungsvermögen      
  haben würden, in mir, meines Daseyns      
  (gesetzt daß ich auch jeder einzelnen Vorstellung bewust wäre,      
  nicht der Beziehung derselben auf die Einheit der Vorstellung      
  Obiects, vermittelst der synthetischen Einheit ihrer Apperception,)      
  immer hin ihr Spiel regelmäßig treiben können, ohne daß ich dadurch      
  in mindesten etwas, auch nicht einmal diesen meinen Zustand, erkennete.      
  - Es ist mislich, den Gedanken, der einem tiefdenkenden      
  obgeschwebt haben mag und den er sich selbst nicht recht klar      
  konnte, zu errathen; gleichwohl überrede ich mich sehr, da      
  Leibnitz mit seiner Vorherbestimmten Harmonie (die er sehr allgemein      
  wie auch Baumgarten in seiner Cosmologie nach ihm) nicht      
  Harmonie zweyer Verschiedenen Wesen, nämlich Sinnen und Verstandeswesen,      
  zweyer Vermögen eben desselben Wesens, in      
  Sinnlichkeit und Verstand zu einem Erfahrungserkenntnisse      
  vor Augen gehabt habe, von deren Ursprung, wenn      
  wir ja darüber urtheilen wollten, obzwar eine solche Nachforschung      
  über die Grenze der menschlichen Vernunft hinaus liegt, wir      
  weiter keinen Grund, als den Gottlichen Urheber von uns selbst angeben      
  können, wenn wir gleich die Befugnis, vermittelst derselben      
  a priori zu urtheilen, (d. i. das qvid iuris ) da sie einmal gegeben      
  vollkommen erklären können.      
           
  muß ich mich begnügen uud kan wegen der Kürze meiner      
  Zeit nicht ins detail gehen. Nur bemerke ich, daß es eben nicht nöthig      
  mit Hrn. Maimon Verstandesideen anzunehmen. In dem Begriffe      
  einer Cirkellinie ist nichts weiter gedacht, als daß alle gerade      
  Linien von demselben zu einem einzigen Puncte (dem Mittelpunct)      
  einander gleich seyn: dies ist eine bloße logische Function der      
           
  des Urtheils, in welchem der Begrif einer Linie das      
  ausmacht und bedeutet nur so viel, als eine jede Linie, nicht      
  All der Linien, die auf einer Ebene aus einem gegebenen Punct      
  werden können; denn sonst [würde] jede Linie mit eben demselben      
  eine Verstandesidee seyn, weil sie alle Linien als Theile      
  die zwischen zweyen in ihr nur denkbaren Puncten, deren      
  gleichfals in Unendliche geht, gedacht werden können. Da      
  diese Linie ins unendliche theilen lasse ist auch noch keine Idee      
  es bedeutet nur einen Fortgang der Theilung, der durch die      
  der Linie garnicht beschränkt wird, aber diese Unendliche Theilung      
  ihrer Totalität und sie mithin als vollendet anzusehen, ist      
  eine Vernunftidee von einer Absoluten Totalität der Bedingungen (der      
  welche an einem Gegenstande der Sinne gefodert      
  welches unmöglich ist, weil an Erscheinungen das Unbedingte      
  nicht angetroffen werden kan.      
           
  ist die Möglichkeit eines Cirkels nicht etwa vor dem practischen      
  einen Cirkel durch die Bewegung einer geraden Linie      
  einen festen Punct zu beschreiben, blos problematisch, sondern      
  ist in der Definition des Cirkels gegeben, dadurch, daß dieser      
  die Definition selbst construirt wird, d. i. in der Anschauung      
  nicht auf dem Papier (der empirischen) sondern in der Einbildungskraft      
  ( a priori ) dargestellt wird. Denn ich mag immer aus      
  freyer Faust mit Kreide einen Cirkel an der Tafel ziehen und einen      
  darinn setzen, so kan ich an ihm eben so gut alle Eigenschaften      
  Zirkels, unter Voraussetzung jener (so genannten) Nominaldefinition,      
  in der That real ist, demonstriren, wenn er gleich mit der      
  die Herumtragung einer Geraden an einem Puncte bevestigten      
  Linie beschriebenen, gar nicht zusammenträfe. Ich nehme an: daß sie,      
  Puncte des Umkreises, gleich weit vom Mittelpuncte abstehen.      
  Satz: einen Cirkel zu beschreiben ist ein practisches Corollarium      
  der Definition (oder so genanntes Postulat), welches gar nicht gefodert      
  könnte, wäre die Möglichkeit, ja gar die Art der Möglichkeit      
  Figur, nicht schon in der Definition gegeben.      
           
  die Erklärung einer geraden Linie betrift, so kan diese nicht      
  durch die Identität der Richtung aller Theile derselben geschehen;      
  der Begrif der Richtung (als einer Geraden Linie, durch      
  die Bewegung, ohne Rücksicht auf ihre Größe, unterschieden      
           
  setzt jenen Begrif schon voraus. Doch das sind Kleinigkeiten.      
       
           
  Maymons Schrift enthält übrigens so viel scharfsinnige      
  daß er sie nicht ohne einen für ihn vortheilhaften Eindruk,      
  immer hätte ins Publicum schicken können, auch ohne im mindesten      
  mir hiedurch zuwieder zu handeln, ob er gleich einen ganz      
  Weg nimmt, als ich; denn er ist doch darinn mit mir einig,      
  mit der Festsetzung der Principien der Metaphysik eine Reform      
  werden müsse, von deren Nothwendigkeit sich nur wenige      
  wollen überzeugen lassen. Allein, was Sie werther Freund verlangen,      
  Herausgabe dieses Werks mit einer Anpreisung meiner seits zu      
  wäre nicht wohl thunlich, da es doch großentheils auch      
  mich gerichtet ist. - Das ist mein Urtheil, im Fall diese      
  herausgekommen wäre. Wollen sie aber meinen Rath in Ansehung      
  Vorhabens, sie so, wie sie ist, herauszugeben; so halte ich      
  daß, da es Hr. Maymon vermuthlich nicht gleichgültig seyn      
  völlig verstanden zu werden, er die Zeit, die er sich zur Herausgabe      
  nimmt, dazu anwenden möge, ein Ganzes zu liefern; in welchem      
  blos die Art, wie er sich die Principien der Erkentnis a priori      
  sondern auch was daraus zur Auflösung der Aufgaben der      
  reinen Vernunft, welche das Wesentliche vom Zwecke der Metaphysik      
  nach seinem Systeme gefolgert werden könne, deutlich gewiesen      
  wo denn die Antinomien der r. Vernunft einen guten      
  abgeben können, die ihn vielleicht überzeugen werden, da      
  den menschlichen Verstand nicht für specifisch einerley mit dem      
  und nur durch Einschränkung, d.i. dem Grade nach, von      
  unterschieden annehmen könne: daß er nicht, wie dieser, als      
  ein Vermögen anzuschauen, sondern nur zu denken, müsse betrachtet      
  welches durchaus ein davon ganz verschiedenes Vermögen      
  Receptivität) der Anschauung zur Seite, oder besser zum Stoffe,      
  müsse, um Erkentnis hervorzubringen und daß, da die letztere,      
  die Anschauung, uns blos Erscheinungen an die Hand giebt      
  die Sache selbst ein bloßer Begrif der Vernunft ist, die Antinomien,      
  gänzlich aus der Verwechselung beyder entspringen,      
  aufgelöset werden können, als wenn man die Möglichkeit      
  Sätze a priori nach meinen Grundsätzen deducirt.      
           
  beharre unveränderlich Ihr treuer Diener und Freund      
           
  I Kant.      
           
           
  Ein Pack in Grün Wachstuch, welches HrN. Maymons Mcrpt.      
  ist unter der Signatur: H. D. M., an Sie addressirt den      
  24 sten May von mir auf die Fahrende Post gegeben worden.      
           
           
           
     

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