Kant: Briefwechsel, Brief 347, An Heinrich Iung=Stilling.

     
           
  An Heinrich Iung=Stilling.      
           
  (Bruchstück und Entwurf.)      
           
  Nach d. 1. März 1789.      
           
  Sie sehen, theuerster Mann! alle Untersuchungen, die die Bestimmung      
  des Menschen angehen, mit einem Interesse an, das Ihrer      
  Denkungsart Ehre macht. - - - Sie thun auch daran sehr wohl,      
  daß Sie die letzte Befriedigung Ihres nach einem sichern Grund der      
  Lehre und der Hoffnung strebenden Gemüths im Evangelium suchen,      
  diesem unvergänglichen Leitfaden wahrer Weisheit, mit welchem nicht      
  allein eine ihre Speculation vollendende Vernunft zusammen trifft,      
  sondern daher sie auch ein neues Licht in Ansehung dessen bekömmt,      
  was, wenn sie gleich ihr ganzes Feld durchmessen hat, ihr noch immer      
  dunkel bleibt, und wovon sie doch Belehrung bedarf. - -      
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  Antwort. Die bürgerliche Gesetzgebung hat zu ihrem wesentlichen      
  obersten Princip das natürliche Recht der Menschen, welches im      
  statu naturali (vor der bürgerlichen Verbindung) eine bloße Idee ist,      
  zu realisiren, d. i. unter allgemeine, mit angemessenem Zwange begleitete,      
  öffentliche Vorschriften zu bringen, denen gemäß jedem sein      
  Recht gesichert, oder verschafft werden kan. Nach der Ordnung der      
  Categorien müssen sie 1. was die Qvantität betrift so gegeben      
  werden, als ob einer sie für alle und alle für einen jeden einzelnen      
  freywillig beschlossen hätten. 2. die Qvalität des Zwecks      
  dieser Gesetze, als Zwangsgesetze, ist nicht Glükseeligkeit, sondern Freyheit      
  für jeden, seine Glükseeligkeit selbst, worinn er sie immer setzen      
  mag, zu besorgen, nur daß er anderer ihrer, gleich rechtmäßigen Freyheit,      
  nicht Abbruch thut. 3. Die Relation der Handlungen welche      
  Zwangsgesetzen unterworfen sind, ist nicht die des Bürgers auf sich      
  selbst, oder auf Gott, sondern blos auf andere Mitbürger d. i. öffentliche      
  Gesetze gehen aus auf äußere Handlungen. 4. Die Modalität der      
  Gesetze ist, daß die Freyheit nicht durch willkührliche ZwangsGesetze,      
  sondern nur die, ohne welche die bürgerliche Vereinigung nicht bestehen      
  kan und die also in dieser schlechthin nothwendig sind, eingeschränkt      
  werde. Salus reipublicae (die Erhaltung der bloßen gesetzlichen Form      
  einer bürgerlichen Gesellschaft) suprema lex est .      
           
     

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  An Heinrich Jung=Stilling.      
           
  nach d. 1. März 1789.      
           
  Sie sehen, Theurester Mann, alle Untersuchungen, die die Bestimmung      
  des Menschen angehen, mit einem Interesse an, das Ihrer Denkungsart      
  Ehre macht und wovon der bey weitem größte Theil speculirender      
  Köpfe nichts fühlt, der nur von dem Interesse ihrer Schule, oder ihrer      
  eigenen Eitelkeit eingenommen ist. Sie thun auch daran sehr wohl,      
  daß Sie die letzte Befriedigung ihres nach einem sicheren Grunde der      
  Lehre und der Hofnung strebenden Gemüths im Evangelium suchen,      
  diesen unvergänglichen Leitfaden wahrer Weisheit, mit welchem nicht      
  allein eine ihre Speculation vollendende Vernunft zusammentrift,      
  sondern daher sie auch ein neues Licht in Ansehung dessen bekömmt,      
  was, wenn sie gleich ihr ganzes Feld durchmessen hat, ihr noch immer      
  dunkel bleibt und wovon sie doch Belehrung bedarf.      
           
  Daß Ihnen die Critik der Vernunft in dieser Absicht nützlich gewesen,      
  muß ich eher Ihrer guten Denkungsart, die aus allem, wenn gleich      
  Mangelhaften, Gutes zu ziehen weiß, als meinem Verdienste zuschreiben.      
  Am wenigsten aber hätte ich erwartet, daß Sie in dem System der Categorien,      
  welches freylich aller Eintheilung der Principien einer wissenschaftlichen      
  Erkenntnis aus Begriffen a priori zum Grunde liegen muß      
  für die bürgerliche Gesetzgebung und ein darnach mögliches System      
  derselben, Hülfe suchen würde[n]. Ich glaube auch, daß sie hierin nicht fehl      
  gerathen haben.      
           
  Die Principien, die Sie der Gesetzgebung zum Grunde Ihrer Eintheilung      
  zu legen in Vorschlag bringen, können nicht füglich dazu dienen,      
  weil sie insgesammt noch als praecepta für den Menschen im Naturzustande      
  gelten, selbst das 3te nicht ausgenommen: „sey ein Glied der      
           
  bürgerlichen Gesellschaft”. Es frägt sich eigentlich, wie Gesetze in einer      
  schon vorausgesetzten bürgerlichen Gesellschaft gegeben werden sollen      
  und da glaube ich, köne man nach der Ordnung der Categorien sagen:      
           
  1mo der Quantität nach, müssen sie so beschaffen seyn, als ob      
  einer für alle und alle für einen sie beschlossen hätte; daß sie      
           
  2do der Qualität nach, nicht den Zweck der Bürger (jedes seine      
  Glückseligkeit, die man jeden nach seiner Neigung und Vermögen selbst      
  kan besorgen lassen), sondern um die Freyheit eines jeden und die      
  Einschränkung derselben durch den Zwang, auf die Bedingungen, unter      
  denen sie mit jedes andern Freyheit zusammen bestehen kan, betreffen      
  müssen. Daß sie, was      
           
  3tio die Relation der Handlungen des Bürgers betrift, nicht diejenige      
  betreffen müssen, welche er gegen sich selbst ausübt, oder unmittelbar      
  in Ansehung Gottes zu verrichten vermeynt, sondern nur die äußere      
  Handlungen, dadurch er anderer Mitbürger Freyheit einschränkt. Daß      
           
  4to der Modalität nach, die Gesetze (als Zwangsgesetze) um der      
  allgemeinen Freyheit selber nicht anders als so fern sie nothwendig      
  zu dieser erforderlich sind und nicht als willkührliche und zufällige Gebote,      
  um beliebiger Zwecke willen, gegeben werden müssen.      
           
  Das allgemeine Problem der bürgerlichen Vereinigung aber ist:      
  Freyheit mit einem Zwange zu verbinden, welcher doch mit der allgemeinen      
  Freyheit und zur Erhaltung derselben zusammenstimmen kan.      
  Auf solche Art entspringt ein Zustand der äßeren Gerechtigkeit (status      
  iustitiae externae), wodurch das, was im natürlichen Zustande blos      
  Idee war, nämlich das Recht, als bloßes Befugnis zu zwingen,      
  realisirt wird.      
           
  Ich werde gegen Ende dieses Sommers meine Metaphysik der Sitten      
  auszuarbeiten anfangen und denke gegen künftige Ostern damit fertig      
  zu werden. In derselben werden die Principien a priori für eine bürgerliche      
  Verfassung überhaupt auch abgehandelt werden.      
           
  Bey der Rechtschaffenheit der Denkungsart und dem lebhaften Antheil      
  an allem Guten, den Ihre an mich erlassene Briefe athmen, kan es      
  nicht fehlen, daß die Ruhe der Seele, welche Sie mir am Abende meines      
  Lebens nicht ohne Grund zuzuschreiben belieben, ihre eigene Tage, deren      
  Sie noch viele erleben mögen, erheitern.      
           
  Ich bin mit Hochachtung und Freundschaft      
           
  Ihr      
  ergebenster Diener      
  I. Kant.      
           
     

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