Kant: Briefwechsel, Brief 340, An Iohann Schultz. |
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An Iohann Schultz. | |||||||
25. Nov. 1788. | |||||||
Hochehrwürdiger | |||||||
Hochzuehrender Herr. | |||||||
Es ist ganz in meiner Denkungsart, in Schriften, die die Berichtigung | |||||||
der menschlichen Kenntnisse und vornehmlich die lautere unverholene | |||||||
Darstellung unserer Vermögen betreffen, durch Vertuschen der | |||||||
Fehler, die man in seinem eigenen System gewahr wird, oder durch | |||||||
Partheymachen und Beredungen keine Blendwerke zu machen, sondern | |||||||
sich, hier so wie allerwerts, das: Ehrlich währt am längsten zum Wahlspruche | |||||||
zu nehmen. Daher ich die Ansicht des gründlichen Werks, | |||||||
welches Sie jetzt anfangen, vor der Herausgabe nur in der Absicht | |||||||
gewünscht habe, um, wo ein leicht zu hebender Misverstand vielen | |||||||
künftigen Controversen zuvorkommen könnte, durch wechselseitige Mittheilung | |||||||
(die hier, da wir uns so nahe sind, so leicht ist) dieses Geschäfte | |||||||
zu erleichtern. | |||||||
Erlauben Sie mir daher über die meinem Satze entgegengesetzten | |||||||
Behauptung: daß Arithmetik keine synthetische Erkentnis a priori, | |||||||
sondern blos analytische enthalte, einige Bedenklichkeiten anzuführen. | |||||||
Die allgemeine Arithmetik (Algebra) ist eine dermaßen sich erweiternde | |||||||
Wissenschaft, daß man keine der Vernunftwissenschaften | |||||||
nennen kan, die es ihr hierinn gleich thäte, so gar, daß die übrige | |||||||
Theile der reinen Mathesis ihren Wachsthum grostentheils von der | |||||||
Erweiterung jener allgemeinen Größenlehre erwarten. Bestände diese | |||||||
nun aus blos analytischen Urtheilen, so wäre wenigstens die Definition | |||||||
der letzteren unrichtig, daß sie blos erläuternde Urtheile wären und | |||||||
denn wäre es ein wichtiges, schweer zu beanwortendes Problem: Wie | |||||||
ist Erweiterung des Erkentnisses durch blos analytische Urtheile | |||||||
möglich | |||||||
Von eben derselben Größe kan ich mir, durch mancherley Art der | |||||||
Zusammensetzung und Trennung, (beydes aber, sowohl Addition als | |||||||
Subtraction ist Synthesis) einen Begrif machen, der obiectiv zwar | |||||||
identisch ist (wie in jeder Aeqvation) subiectiv aber, nach der Art der | |||||||
Zusammensetzung, die ich denke, um zu jenem Begriffe zu gelangen, | |||||||
sehr verschieden ist, so, daß das Urtheil über den Begrif, den ich von | |||||||
der Synthesis habe, allerdings hinaus geht, indem es eine andere Art | |||||||
derselben (welche einfacher und der Construction angemessener ist) an | |||||||
die Stelle der ersteren setzt, die gleichwohl immer das Obiect auf eben | |||||||
dieselbe Art bestimmt. So kan ich durch 3 + 5 durch 12 - 4 durch | |||||||
2 * 4 durch 2 hoch 3 zu einerley Bestimmung einer Große = 8 gelangen | |||||||
Allein in meinem Gedanken 3 + 5 war doch der Gedanke 2 * 4 gar | |||||||
nicht enthalten; eben so wenig also auch der Begrif von 8 welcher mit | |||||||
beyden einerley Werth hat. | |||||||
Die Arithmetik hat freylich keine Axiomen, weil sie eigentlich | |||||||
kein Quantum, d. i. keinen Gegenstand der Anschauung als Größe, | |||||||
sondern blos die Qvantität, d. i. einen Begrif von einem Dinge | |||||||
überhaupt durch Größenbestimmung zum Obiecte hat. Sie hat aber | |||||||
dagegen Postulate d. i. unmittelbar gewisse practische Urtheile. Denn | |||||||
wenn ich 3 + 4 für den Ausdruk eines Problems ansehe, nämlich | |||||||
zu den Zahlen 3 und 4 eine dritte - 7 zu finden, zu welcher die | |||||||
eine als das complementum ad totum der anderen betrachtet wird, | |||||||
so geschieht die Auflösung durch die einfachste Handlung, die keine | |||||||
besondere Vorschrift der Resolution bedarf, nämlich durch die successive | |||||||
addition die die Zahl 4 hervorbringt, nur als Fortsetzung des Zählens | |||||||
der Zahl 3 angestellt. Das Urtheil 3 + 4 = 7 scheint zwar ein blos | |||||||
theoretisch Urtheil zu seyn und ist es auch obiectiv betrachtet subiectiv | |||||||
aber bezeichnet das + eine Art der Synthesis, aus zwey gegebenen | |||||||
Zahlen eine dritte zu finden und eine Aufgabe, die keiner Auflösungsvorschrift | |||||||
noch eines Beweises bedarf, mithin ist das Urtheil ein | |||||||
Postulat. Gesetzt nun es wäre ein analytisches Urtheil, so müßte | |||||||
ich gerade eben dasselbe bey 3 + 4 als bey 7 denken und das Urtheil | |||||||
würde nur meines Gedanken mich klärer bewust machen. Weil nun | |||||||
12 - 5 = 7 eine Zahl = 7 giebt, bey der ich wirklich eben dasselbe | |||||||
denke, was ich vorher bey 3 + 4 dachte, so würde, nach dem Satze | |||||||
eadem vni tertio sunt eadem inter se , ich, wenn ich 3 und 4 denke, | |||||||
zugleich 12 und 5 denken welches dem Bewustseyn zuwieder ist. | |||||||
Alle Analytische Urtheile durch Begriffe haben das an sich, da | |||||||
sie ein Prädicat auch allenfalls nur als Theilbegrif im Begriffe des | |||||||
Subiects enthalten vorstellen können; nur die Definition erfodert, da | |||||||
beyde conceptus reciproci seyn. Allein in einem Arithmetischen Urtheile, | |||||||
nämlich einer Aeqvation, müssen beyde Begriffe 3 + 4 und 7 | |||||||
durchaus conceptus reciproci und obiectiv totaliter identisch seyn. Die | |||||||
Zahl 7 also muß wohl nicht aus dem Begriffe der Aufgabe, 3 und 4 | |||||||
in eine Zahl zusammen zu fassen, durch Zergliederung desselben, sondern | |||||||
durch die Construction, d. i. synthetisch, entsprungen seyn, welche | |||||||
[die] den Begrif der Zusammensetzung zweyer Zahlen in einer Anschauung | |||||||
a priori nämlich eine einzelne Aufzählung darstellt. - Der | |||||||
Begrif eines Qvanti wird hier nicht construirt, sondern der der | |||||||
Qvantität. Denn daß 3 und 4, als so viel Begriffe von der Größe, | |||||||
zusammengesetzt, den Begrif von einer Größe geben könnten, war ein | |||||||
bloßer Gedanke: die Zahl sieben ist nun die Darstellung dieses Begrifs | |||||||
in einer Zusammenzählung. | |||||||
Die Zeit hat, wie Sie ganz wohl bemerken, keinen Einflus auf | |||||||
die Eigenschaften der Zahlen (als reiner Größenbestimmungen), so wie | |||||||
etwa auf die Eigenschaft einer jeden Veränderung (als eines Qvanti), | |||||||
die selbst nur relativ auf eine specifische Beschaffenheit des inneren | |||||||
Sinnes und dessen Form (die Zeit) möglich ist, und die Zahlwissenschaft | |||||||
ist, unerachtet der Succession, welche jede Construction der Größe | |||||||
erfodert, eine reine intellectuelle Synthesis, die wir uns in Gedanken | |||||||
vorstellen. So fern aber doch Größen (quanta) darnach zu bestimmen | |||||||
seyn, so müssen sie uns so gegeben werden, daß wir ihre Anschauung | |||||||
successiv auffassen können und also diese Auffassung der Zeitbedingung | |||||||
unterworfen seyn, so, daß wir denn doch keinen Gegenstand, als den der | |||||||
möglichen sinnlichen Anschauung, unserer Größenschätzung durch Zahlen | |||||||
unterwerfen können und es also ein Grundsatz ohne Ausnahme bleibt, | |||||||
daß die Mathematik sich nur auf sensibilia erstrecke. Die Größe der | |||||||
Göttlichen Vollkommenheit der Dauer etc. kan nur durchs All der | |||||||
Realität ausgedrückt werden ohne durch Zahlen, gesetzt man wollte | |||||||
auch eine blos intelligibele Einheit zum Maaße annehmen, vorgestellt | |||||||
werden zu können. - Bey dieser Gelegenheit nehme mir die Freyheit | |||||||
zu bemerken, daß, da die Anticritiker an jedem Ausdrucke nagen, | |||||||
die Stelle Seite 27 Zeile 4, 5, 6. wo ein sinnlicher Verstand genannt | |||||||
wird, imgleichen dem göttlichen Verstande ein Denken zugeschrieben | |||||||
zu werden scheint, eine kleine Abänderung rathsam seyn würde | |||||||
Ew. Hochehrwürden würden sich ein großes Verdienst dadurch erwerben, | |||||||
wenn Sie den Gründen nachzusinnen beliebten, worauf es | |||||||
beruht, daß reine Größenlehre einer so großen Erweiterung a priori | |||||||
fähig ist (der Grund welcher Seite 68, 69 angeführt worden möchte | |||||||
wohl eher selbst jener gewünschten Deduction noch bedürfen). Niemand | |||||||
ist hiezu geschickter als eben Sie. | |||||||
Mein unmaßgeblicher Vorschlag wäre also, die N. II von Seite 54 | |||||||
bis 71 vor der Hand zu unterdrücken und (wenn es Ihre Zeit nicht erlaubt | |||||||
jene gewünschte Untersuchung anzustellen) an die Stelle der gedachten | |||||||
Numer etwa nur die Wichtigkeit einer solchen Untersuchung anzuführen. | |||||||
Eine Behauptung, die so gegen alles folgende contrastirt, als diejenige | |||||||
welche jene Numer enthält, würde denen die nur einen Vorwand | |||||||
brauchen, um von allen tiefen Untersuchungen abzukommen, sehr zu | |||||||
statten zu kommen scheinen; um wohl gar von allem synthetischen Erkentnisse | |||||||
a priori zu behaupten, daß sie nichts sey, sondern das alte | |||||||
principium contradictionis überall zulange. | |||||||
Vergeben Sie mir meine Freyheit und zugleich die Flüchtigkeit, | |||||||
womit ich, um pünctlich Wort zu halten, meine Gedanken hier entworfen | |||||||
habe. Vor allen Dingen wünschte ich, daß Sie sich durch | |||||||
Ihren Verleger nicht über Ihre Gemachlichkeit drängen ließen, sondern | |||||||
die Zeit, die sonst vielleicht doppelt zu Controversen verwandt werden | |||||||
müßte, lieber sich jetzt vorzuspahren beschließen möchten, um der letzteren | |||||||
überhoben zu seyn. | |||||||
Ich hoffe die Ehre zu haben hierüber mich noch mündlich mit | |||||||
Ihnen zu unterhalten und bin mit der Vollkommensten Hochachtung | |||||||
Ew: Hochehrwürden | |||||||
ganz ergebenster Diener | |||||||
I Kant | |||||||
den 25. Nov. 1788 | |||||||
[ abgedruckt in : AA X, Seite 554 ] [ Brief 339 ] [ Brief 341 ] [ Gesamtverzeichnis des Briefwechsels ] |