Kant: Briefwechsel, Brief 251, Von Iohann Erich Biester.

     
           
 

 

 

 

 

 
  Von Iohann Erich Biester.      
           
  Berlin, d. 8. Nov. 85.      
           
  Ich eile, Ihnen, theurester Mann, alles zu schikken, was ich über      
  den Stein Sophronister weiß. Die Stelle von Winkelmann habe ich      
  Ihnen abschreiben lassen. Die von ihm citirte Stelle des Pausanias      
  habe ich nachgeschlagen, u. lege sie Ihnen gleichfalls bei, mit dem      
  Resultate meiner grammatischen und lexikalischen Nachsuchungen. Es      
  ist wenig; aber alles was ich geben kann. Verzeihen Sie auch, da      
  es auf einzelnen Blättern steht; ich habe es auf der Bibliothek geschrieben.      
       
           
  So eben bekomme ich einliegendes Billet von meinem Freund      
  Gedike, den ich darum befragte; ich halte es besser, u. Sie verzeihen      
  es meiner Geschäfte wegen, daß ich es Ihnen selbst ganz schikke, als      
  es in einen Aufsatz verarbeite.      
           
  Hier sind nun Materialien; ich zweifle, daß sich noch mehr wird      
  darüber auftreiben lassen. Vielleicht ist es auch zu Ihrem Zwekke      
  hinlänglich.      
           
           
  Nehmen Sie nun aber meinen vorzüglichsten Dank an für den      
  vortreflichen Aufsatz über die Geschichte der Menschheit, den Sie mir      
  letzt zur Monatsschrift geschikt haben. Das ist ein Stük der erhabensten      
  edelsten Philosophie, die wahrhaft erbaut u. die Seele erhebet. Solche      
  Betrachtungen sind es immer gewesen, mit denen ich mich zum liebsten      
  beschäftiget habe, für die ich aber nur selten Nahrung fand. Sie      
  bringen uns zu einem hohen Standpunkte, wo wir das Ganze übersehn      
  können, u. wo die größten Widersprüche sich in Harmonie vereinigen.      
  Es ist ein kostbares Geschenk, was Sie durch uns dem      
  Publikum geben; u. es thut mir um desto mehr leid, daß wir es nicht      
  gleich im Decemb. mittheilen können. H. Garve sucht (Gott weiß,      
  warum) noch einmal die Katholiken u. sogar Iesuiten u. den Papst      
  in Schutz zu nehmen; es ist ein langer Brief an mich, worauf ich      
  aber antworten werde. Dieses Schreiben u. meine Antwort werden      
  im Decembermonate allen Platz für größere Stükke wegnehmen. So      
  gutes Spiel man sonst gewöhnlich gegen die Katholiken u. ihre Freunde      
  hat; so sauer wirds einem doch, wenn ein Garve sich auf die Spitze      
  derselben stellt. Indeß soll mich noch Ihr Beyfall, den Sie mir letzt      
  so gütig meldeten, anfeuern; u. ich hoffe, der guten Sache der Wahrheit      
  nichts zu vergeben.      
           
  Ich werde dem Minister den von Ihnen genannten H. Pörschke      
  vorschlagen; u. er wird ohne Zweifel gern in einen Vorschlag, der      
  ursprünglich von Ihnen kömt, willigen.      
           
  Aber wo nimt man einen Orientalisten an Köhlers Stelle her,      
  der nun durchaus wegwill? Mein theurer Freund Prof. Kraus nannte      
  mir einmal einen H. Hill, den er aber noch selbst nicht genug kenne.      
  Nun begreife ich zwar wohl, daß die orientalische Welt etwas außer      
  der unsrigen liegt; allein dieser H. Hill schien, mit seinem Zettel von      
  Lavater den er allenthalben vorzeigte, doch gar zu niais, als daß man      
  ihm sobald ein wichtiges Amt in unsrer Welt ertheilen könnte. Mit      
  der Zeit, wenn er mehr Reife des Verstandes haben wird, mag er      
  einst ein recht brauchbarer Mann werden.      
           
  Wissen Sie dort sonst keinen Orientalisten zu nennen? Denn      
  gerne suchte ich es so bei dem Minister einzurichten, daß er lieber      
  einen dortigen nehme, als einen Fremden hinschikke, da die Fremden      
  doch gar nicht dort zu gedeihen scheinen.      
           
  Vergessen Sie doch nicht, ein Wort über die philosophische      
           
  Schwärmerei zu sagen, wovon Sie einst, bei Gelegenheit des Briefes      
  von Iakobi an M. Mendelssohn, erwähnten. Wahrlich ein seltsamer      
  Brief! der von Philosophie handeln soll, u. mit einer Stelle aus      
  Lavaters engelreinem Munde schließt, die das Glauben vorschreibt!      
           
  Leben Sie recht herzlich wohl, u. sein stets meiner wärmsten Hochachtung      
  gewiß.      
           
  Biester.      
           
  Ihr Brief nach Iena ist damals sogleich besorgt worden.      
           
  [1ste Beilage: Gedike an Biester.]      
           
  Der Stein σωφρονιςηρ muss wol der leibhaftige - Stein der      
  Weisen sein. Wenigstens ist er eben so schwer zu finden. - Ich      
  habe in allen Dichtern u. ihren Kommentatoren, u. in allen Mythographen      
  nachgeschlagen. Aber ich mögte wie alle Laboranten sagen:      
  Oleum et operam perdidi. Was ich indessen gefunden ist dis.      
           
  Das Mährchen selbst von dem besänftigenden Stein steht außer      
  dem Pausanias auch noch beim Euripides im Hercules furens, wo      
  es v. 1004 heisst:      
           
   

     
  Παλλας -- -- --      
  'Ερριψε πετρον στερνον εις Ηρακλε&u;ς,      
  `ος νιν φον&u; μαργωντος εσχε κει&s; υπνον      
  Κψθηκε      
           
  Ich glaube übrigens nicht, daß die Historie sich noch sonst wo      
  findet. - Der Name des Steins Σωφρονιστηρ aber scheint bloß beim      
  Pausanias vorzukommen. Er kömmt aber ausser der Hauptstelle bald      
  hinterher am End desselben Kapitels noch einmal vor, wo gesagt wird,      
  daß ein Altar des Apollo über den Stein Σωφρ. erbaut sei.      
           
  Es muß also zu Theben doch würklich ein gewisser Stein gewesen      
  sein, dem man den Namen gegeben. Was es aber für eine Art Stein      
  gewesen, mag der Himmel wissen. Doch fällt mir ein, daß sowol der      
  Magnet als der Probierstein oder lapis Lydius , λιθος Ηρακλεια genannt      
  werden. Von dem letztern sagt dis unter andern Plinius      
  (l. 33. c. 43). Aber eben derselbe nennt auch den Magnet so (l. 36.      
  c. 75). Eben so heißt der Magnet offenbar beim Lucian, nehml.      
  Tom. II (ed. Hemsterh.) Imag. p. 460 -- οπερ και η λιθος η      
           
  `Ηρακλεια δρα τον σιδηρον. In der Anmerkg ist eine Stelle des Pisides      
  citirt, wo es ausdrückl. heisst, daß der Magnet so genannt werde.      
  Nun aber sieht man aus den unter Orpheus Namen bekannten Λιθικα,      
  wo ein eigner Gesang (nr. 10) vom Magnet vorkömmt, dass man dem      
  Magnet allerlei magische Würkungen zuschrieb. Unter andern heisst      
  es v. 20 u. 21 daß wenn zwei Brüder einen Magnet bei sich trügen,      
  sie dadurch vor Streit u. Zwist unter einander gesichert wären.      
  Vielleicht also war der lapis Σωφρονιςηρ ein Magnet, weil er auch      
  beim Herkules die Würkung hatte, ihn zu besänftigen. Er sollte ja      
  sogar nach dem Orpheus die Herzen der Götter lenken (v. 26).      
  Nach dem Hesych. soll freil. der Magnet den Namen λιθος `Ηρακλεια      
  nicht vom Herkules sondern von der Stadt Heraclea in Lydien haben.      
           
  Dass man überhaupt vom Steinwerfen in gewissen Umständen      
  magische Würkungen erwartete, zeigt auch die Geschichte des Deukalion,      
  Kadmus u. Iason.      
           
  Vielleicht finden Sie auch noch etwas im Theophrast περι λιθων,      
  den ich nicht habe.      
           
  Daß übrigens in der Kuhnschen Ausgabe des Pausan. bei dieser      
  Stelle gar keine Anmerkung steht, darf Sie nicht wundern. Denn es      
  geht bei andern Stellen eben so. Die ganze Ausgabe taugt nicht viel,      
  ob sie gleich freil. bis itzt die beste ist. Pausanias hätte schon längst      
  eine bessere Ausgabe verdient. Haben Sie Lust, so wollen wir einmal      
  beide gemeinschaftl. eine neue Ausgabe besorgen.      
           
  Von Schriften zur Erläuterung des Pausanias kenne ich weiter      
  keine, als die Harles in s. Introduct. anführt.      
           
  Da haben Sie also meine ganze Gelehrsamkeit über den magischen      
  Stein. Sie mögen nun mit meinem guten Willen vorlieb nehmen.      
  Gedike      
  6 Nov. 85.      
           
  [2te Beilage: Von Biester.]      
  Pausanias, edit. Kuhn. l. IX. c. 11, pag. 731.      
           
  Θηβαιοι δε και ταδε επιλεγ&u;σιν, ως 'Ηρακλης υπο της μανιας και Αμφιτρυωνα εμελλεν αποκτεινυναι προτερον δε αρα υπνος ελαβεν αυτον      
  υπο τ&u; λιθ&u; της πληγης Αθηναν δε ειναι την επαφεισαν οι τον λιθον      
  τ&u;τον, οντινα Σωφρονιςηρα ονομαζ&u;σιν.      
           
           
  "Die Thebaner fügen auch noch das hinzu: daß Herkules aus      
  Raserei selbst den Amphitryo habe tödten wollen; allein ein Schlaf      
  habe ihn vorher überfallen, durch den Wurf von einem Steine; Minerva      
  aber sei die gewesen, welche diesen Stein, den sie Sophronister      
  nennen, auf ihn geworfen."      
           
  Am Ende desselben Kapitels, p. 733.      
  'Υπερ δε τον Σωφρονιςηρα λιθον βωμος εστιν Απολλωνος επικλησιν Σπονδι&u; (al. Σποδι&u;).      
           
  "Ueber den Stein Sophronister ist ein Altar des Apollo Spondius."      
  Dieses (wie es Winkelmann nennt) wirklich sehr unbekannte      
  Mährchen aus der alten Mythologie findet sich wohl nur bloß beim      
  Pausanias; wenigstens finde ich in der bis itzt besten Ausgabe dieses      
  Schriftstellers, der Kuhnischen, hierzu weder eine Anmerkung noch auch      
  nur Citatum. Vorzüglich glaube ich, kömt das Wort Σωφρονιςηρ wohl      
  schwerlich noch sonst wo in dieser Bedeutung vor. Die Ableitung ist      
  leicht. σωφρον, weise, eigentl. vernünftig, sittsam (recht was das französ.      
  sage). Davon σωφρονιζω, ich mache klug, ich ermahne, auch wohl, ich      
  züchtige. Lauter bekannte Wörter. Davon könte nun σωφρονιςηρ      
  einer der klug macht, heißen. Ich sage: könte; denn in allen ältern      
  u. neuern Lexikographen, mit Inbegrif des Svidas, Pollux etc. die      
  ich darum nachgesehn, findet sich dies Wort nie so, sondern statt dessen      
  immer Σωφρονιςες (mit einem s, nicht r, am Ende). Sophronister      
  kömt freilich auch vor, aber bloß in der Bedeutung des hintersten      
  Backzahns, der auch deutsch der Weisheitszahn heißt. Sophronisterium      
  aber heisst ein Zucht= oder auch wohl Irrhaus.      
           
  So dunkel ist die Wort= und Sacherklärung. Soviel sieht man      
  also wohl, daß eigentl. keine Spur da ist, daß man je einen solchen      
  Stein selbst vorgezeiget habe. Doch kann Herkules sehr wohl auf      
  Kunstwerken mit diesem Steine sein abgebildet worden. Der starke      
  Eindruk einer unvermutheten Sache kann wohl einen rasenden oder      
  empörten Menschen zur Besinnung bringen; so auch der plötzliche Wurf      
  eines Steines der vom Himmel fällt, d. h. von dem man nicht wei      
  woher er kömmt.      
           
           
           
     

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