Kant: Briefwechsel, Brief 190, Von Moses Mendelssohn.

     
           
 

 

 

 

 

 
  Von Moses Mendelssohn.      
           
  10. April 1783.      
           
  Verehrungswürdiger Herr!      
           
  Der das Vergnügen hat, Ihnen dieses zu überreichen, ist der      
  Sohn eines der besten Männer, die dem großem Friderich dienen,      
           
  und der würdige Vater, der Sie kennet, glaubt zu dieser wichtigen      
  Empfehlung, durch die Meinige noch etwas hinzuthun zu können. Da      
  diese Meinung von meinem Werthe in Ihren Augen, so schmeichelhaft      
  für mich ist; so wünsche ich sie allerdings unter guten Menschen erhalten      
  zu können, und Sie, theuerster Herr Professor! Sie lieben mich      
  wirklich allzusehr, um meiner Eigenliebe dieses zu gönnen. Ihnen ist      
  ohnehin jeder Iüngling, der nach Weisheit strebt, empfohlen, wie Ihr      
  Sohn, und dieser hat bewährte Zeugnisse für sich, daß er würdig sey,      
  von Ihnen geleitet zu werden.      
           
  Ich weis nicht, welche Königsberger mich vor einigen Monathen      
  versichert haben, Sie würden diesen Sommer zu uns kommen, und      
  hier durch nach Pyrmont, oder Spa reisen. Können Ihre Freunde      
  dieses hoffen? - Im Grunde müßte eine solche Reise, auch ohne Bad      
  und Brunnen, Ihnen zuträglich seyn, und ich sollte denken, Sie wären      
  verbunden, Ihre Gemächlichkeit und das ganze Heer von Bedenklichkeiten,      
  die eine scharfsinnige Hypochondrie der Reise entgegensetzen kan,      
  dem Aeskulap zu opfern. Offene Arme würden Sie in Berlin viele      
  finden; aber auch so manches offene Herz, und unter andern auch eines      
  Menschen, der Ihnen Bewunderung nachruft, ohne Ihnen folgen zu      
  können. Seit vielen Iahren bin ich der Metaphysik wie abgestorben.      
  Meine Nervenschwäche verbietet mir alle Anstrengung, und ich amusire      
  mich unterdessen mit minderangreifenden Arbeiten, davon ich nächstens      
  das Vergnügen haben werde, einige Proben zu übersenden. Ihre      
  Kritik der reinen Vernunft ist für mich auch ein Kriterium der      
  Gesundheit. So oft ich mich schmeichele, an Kräften zugenommen zu      
  haben, wage ich mich an dieses Nervensaftverzehrende Werk, und ich      
  bin nicht ganz ohne Hoffnung, es in diesem Leben noch ganz durchdenken      
  zu können. Ich bin      
           
    der Ihrige      
    Moses Mendelssohn      
  Berlin den 10. April        
  1783        
           
           
           
     

[ abgedruckt in : AA X, Seite 307 ] [ Brief 189a ] [ Brief 190a ] [ Gesamtverzeichnis des Briefwechsels ]