Kant: Briefwechsel, Brief 172, An Iohann Bernoulli. |
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An Iohann Bernoulli. | |||||||
Koenigsb: d. 16 Nov. 1781 | |||||||
Wohlgebohrner | |||||||
Hochzuehrender Herr | |||||||
Ew: Wohlgeb. Geehrtestes vom 1 sten dieses Monats ist mir | |||||||
den 10ten zu Handen gekommen. Dero darinn geäußertem Verlangen | |||||||
in Ansehung gewisser Eröfnungen, die den Lambertschen Briefwechsel | |||||||
betreffen, ein Gnüge zu thun, erfodert nicht allein die schuldige Pflicht | |||||||
gegen einen berühmten Mann in seinem litterarischen Geschäfte, sondern | |||||||
auch mein eigenes interesse, das mit der Bekanntmachung desselben | |||||||
in Verbindung steht. Es ist aber nicht gänzlich in meinem Vermögen | |||||||
Ew: Wohlgeb. geneigte Anfragen Dero Erwartung gemäs befriedigend | |||||||
zu beantworten. Von dem ersten Briefe kan ich das datum wohl | |||||||
genau anzeigen. Er war den 13ten Nov: 1765 datirt. Allein den | |||||||
letzten vom Iahr 1770 kan ich, ungeachtet ich gewiß weiß ihn aufbehalten | |||||||
zu haben, nach allem Suchen doch nicht auffinden. Da ich | |||||||
aber auf einen Brief, den ich zu gleicher Zeit und bey derselben | |||||||
Veranlassung (nämlich der Überschickung meiner Inauguraldisputation) | |||||||
an den seel: HEn Sulzer geschrieben hatte, die Antwort d. 8 Decembr. | |||||||
177O erhielt, so vermuthe ich, daß HEn Lamberts Antwort | |||||||
etwa um eben diese Zeit eingetroffen seyn möchte. Der vortrefliche | |||||||
Mann hatte mir einen Einwurf wieder meine damals geäußerte | |||||||
Begriffe von Raum und Zeit gemacht, den ich in der Critik der | |||||||
reinen Vernunft Seite 36-38 beantwortet habe. | |||||||
Ew: Wohlgeb: erwarten mit völligem Rechte: daß ich auch meine | |||||||
Antworten auf die Zuschriften eines so wichtigen Correspondenten | |||||||
werde aufbehalten haben; aber sie haben leider niemals etwas der | |||||||
Copey würdiges enthalten, eben darum, weil der Antrag mir so | |||||||
wichtig war, den mir der unvergleichliche Mann that, mit ihm zur | |||||||
reforme der Metaphysik in engere Verbindung zu treten. Damals | |||||||
sahe ich wohl: daß es dieser vermeintlichen Wissenschaft an einem | |||||||
sicheren Probierstein der Warheit und des Scheins fehle, indem die | |||||||
Sätze derselben, welche mit gleichem Rechte auf Überzeugung Anspruch | |||||||
machen, sich dennoch in ihren Folgen unvermeidlicher Weise so durchkreutzen, | |||||||
daß sie sich einander wechselseitig verdächtig machen müssen. | |||||||
Ich hatte damals einige Ideen von einer möglichen Verbesserung | |||||||
dieser Wissenschaft, die ich aber allererst zur Reife wolte kommen | |||||||
lassen, um sie meinem tiefeinsehenden Freunde zur Beurtheilung und | |||||||
weiteren Bearbeitung zu überschreiben. Auf solche Weise wurde das | |||||||
verabredete Geschäfte immer aufgeschoben, weil die gesuchte Aufklärung | |||||||
beständig nahe zu seyn schien und bey fortgesetzter Nachforschung sich | |||||||
dennoch immer noch entfernete. Im Iahre 1770 konnte ich die | |||||||
Sinnlichkeit unseres Erkentnisses durch bestimmte Grenzzeichen ganz | |||||||
wohl vom Intellectuellen unterscheiden, wovon ich die Hauptzüge | |||||||
(die doch mit manchem, was ich ietzt nicht mehr anerkennen würde, | |||||||
vermengt waren) in der gedachten Dissertation an den belobten Mann | |||||||
überschickte, in Hofnung mit dem übrigen nicht lange im Rückstande | |||||||
zu bleiben. Aber numehr machte mir der Ursprung des Intellectuellen | |||||||
von unserem Erkentnis neue und unvorhergesehene Schwierigkeit | |||||||
und mein Aufschub wurde je länger desto nothwendiger, bis ich | |||||||
alle meine Hofnung, die ich auf einen so wichtigen Beystand gesetzt | |||||||
hatte, durch den unerwarteten Tod dieses ausserordentlichen Genie's | |||||||
schwinden sah. Diesen Verlust bedaure ich desto mehr, da, nachdem | |||||||
ich in den Besitz dessen was ich suchte gekommen zu seyn vermeyne, | |||||||
Lambert gerade der Mann war, den sein heller und erfindungsreicher | |||||||
Geist eben durch die Unerfahrenheit in metaphysischen Speculationen | |||||||
desto vorurtheilfreyer und darum desto geschikter machte, die in meiner | |||||||
Critik der reinen Vernunft nachdem vorgetragene Sätze in ihrem | |||||||
ganzen Zusammenhange zu übersehen und zu würdigen, mir die etwa | |||||||
begangene Fehler zu entdecken und bey der Neigung, die er besaß, | |||||||
hierinn etwas Gewisses vor die menschliche Vernunft auszumachen, | |||||||
seine Bemühung mit der meinigen zu vereinigen, um etwas Vollendetes | |||||||
zu Stande zu bringen; welches ich auch ietzt nicht vor unmöglich, aber, | |||||||
da diesem Geschäfte ein so großer Kopf entgangen ist, vor langwieriger | |||||||
und schweerer halte. | |||||||
Das sind die Ursachen welche mich bey Ew: Wohlgeb: und dem | |||||||
Publikum entschuldigen werden, warum ich die Gelegenheit, die sich | |||||||
mir so erwünscht darboth, nicht besser genutzt habe und weswegen | |||||||
zu den gefälligen Briefen des seel: Mannes meine Antworten fehlen. | |||||||
Vor den Gebrauch, den Ew: Wohlgeb. von meinen dem HEn | |||||||
Goldbek überschriebenen Erinnerungen zu machen Willens sind, sage | |||||||
den ergebensten Dank. Es wird dadurch ein Misverstand verhütet, | |||||||
der nicht HEn Lambert, sondern mir nachtheilig seyn könte. Ich verbitte | |||||||
gar sehr alle Kosten, die sich Ew: Wohlgeb:, durch Ubersendung | |||||||
des ersten Bandes des Lambertschen Briefwechsels an mich, geben | |||||||
wollen. Ich habe so gar keinen Antheil an der Ausfertigung desselben, | |||||||
daß es Unbescheidenheit seyn würde, diese gütige Offerte mit Dero | |||||||
Beschwerde anzunehmen, vielmehr legt mir die Bemühung, die Sie | |||||||
sich hiemit geben die Verbindlichkeit auf, nicht allein das HEn Wagner | |||||||
communicirte Unternehmen nach meinem Vermögen zu befördern, | |||||||
sondern auch in Allem, was Ihnen gefällig ist mir ferner aufzutragen, | |||||||
meine Bereitwilligkeit zu bezeigen und bey aller Gelegenheit die ausnehmende | |||||||
Hochachtung zu beweisen, mit der ich jederzeit bin | |||||||
Ew: Wohlgeb: | |||||||
Inliegenden Brief bitte an HEn | gehorsamster Diener | ||||||
D. Biester gütigst zu befördern. | I Kant. | ||||||
Er wird ihm entweder in Charlottenburg | |||||||
oder im Hause Sr. | |||||||
Excell. des HEn Ministre v. Zedlitz | |||||||
zugestellt werden können. | |||||||
[ abgedruckt in : AA X, Seite 276 ] [ Brief 171b ] [ Brief 173 ] [ Gesamtverzeichnis des Briefwechsels ] |