Kant: Briefwechsel, Brief 109, An Christian Heinrich Wolke. |
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An Christian Heinrich Wolke. | |||||||
28. März 1776. | |||||||
Hochedelgebohrner Herr | |||||||
Hochzuehrender Herr Profeßor | |||||||
Mit dem innigsten Vergnügen ergreife ich die Gelegenheit, Ew: | |||||||
Hochedelgeb: den Herzensantheil, den ich an Dero vortreflichem Philanthropin | |||||||
nehme, durch die Ausrichtung eines mir geschehenen Auftrages | |||||||
zu eröfnen. | |||||||
Herr Robert Motherby, ein hier etablirter englischer Kaufmann, | |||||||
mein sehr werther Freund, wünscht nemlich seinen einzigen Sohn | |||||||
George Motherby im Philanthropin Dero gütigen Vorsorge anvertrauet | |||||||
zu sehen. Seine Grundsätze stimmen mit denen, auf welchen | |||||||
Ihre Anstalt errichtet ist, selbst in dem, worin sich diese am weitesten | |||||||
vom gemeinen Vorurtheile entfernet, auf das vollkommenste überein | |||||||
und das Ungebräuchliche wird ihn niemals abhalten, in allem, was | |||||||
edel und gut ist, Ihren ferneren Vorschlägen und Anordnungen willigst | |||||||
beyzutreten. Sein Sohn ist allererst d. 7ten Aug dieses Iahrs 6 Iahre | |||||||
alt. Aber, ob er gleich die, von Ew: Hochedelgeb: bestimmte, Zeit | |||||||
den Iahren nach noch nicht erreichet hat, so glaube ich doch: daß er der | |||||||
Absicht dieser Bestimmung, vermöge seiner Naturfähigkeit und Antriebes | |||||||
zur Thätigkeit, gemäs sey; wie denn die letztere eben die Ursache | |||||||
ist, weswegen der Vater ihn ohne Aufschub unter gute Führung | |||||||
gebracht zu sehen wünscht, damit der Trieb beschäftigt zu seyn ihm | |||||||
nicht Unarten zuziehe, welche seine künftige Bildung nur schwerer | |||||||
machen würden. Die Erziehung desselben ist bisher nur negativ gewesen, | |||||||
die beste, welche man ihm, wie ich glaube, vor sein Alter nur | |||||||
hat geben können. Man hat die Natur und den gesunden Verstand | |||||||
seinen Iahren gemäß sich ohne Zwang entwickeln lassen, und nur alles | |||||||
abgehalten, was ihnen und der Gemüthsart eine falsche Richtung geben | |||||||
könte. Er ist frey erzogen, doch ohne beschwerlich zu fallen. Er hat | |||||||
niemals die Härte erfahren und ist immer lenksam in Ansehung gelinder | |||||||
Vorstellungen erhalten worden. Ob er gleich nicht zu Manieren | |||||||
dressirt worden ist, so hat man doch die Ungezogenheit verhütet, ohne | |||||||
ihn durch Verweise verschämt und blöde zu machen. Dieses war um | |||||||
desto nothwendiger, damit eine anständige Freymüthigkeit sich in ihm | |||||||
gründe und vornemlich, damit er nicht in die Nothwendigkeit versetzt | |||||||
würde, zur Lüge seine Zuflucht zu nehmen. Um deswillen sind ihm | |||||||
einige kindische Fehler auch lieber verziehen worden, als daß er in | |||||||
Versuchung gebracht würde die Regel der Warhaftigkeit zu übertreten. | |||||||
Übrigens hat er noch nichts gelernet, ausser lateinische Schrift kennen | |||||||
und, wenn ihm die Buchstaben vorgesagt werden, dieselbe (aber nur | |||||||
mit der Bleyfeder) zu schreiben. Er ist also die glatte Tafel, auf | |||||||
die noch nichts gekritzelt ist, und die itzt einer Meisterhand überliefert | |||||||
werden soll, um die unauslöschliche Züge der gesunden Vernunft, der | |||||||
Wissenschaft und Rechtschaffenheit darein zu graben. | |||||||
In Ansehung der Religion ist der Geist des Philanthropins | |||||||
ganz eigentlich mit der Denkungsart des Vaters einstimmig, so sehr, | |||||||
daß er wünscht: daß selbst die natürliche Erkentnis von Gott, so | |||||||
viel er mit dem Anwachs seines Alters und Verstandes davon nach | |||||||
und nach erlangen mag, eben nicht gerade zu auf Andachtshandlungen | |||||||
gerichtet werden möge, als nur, nachdem er hat einsehen lernen: da | |||||||
sie insgesammt nur den Werth der Mittel haben, zur Belebung einer | |||||||
thätigen Gottesfurcht und Gewissenhaftigkeit in Befolgung seiner | |||||||
Pflichten, als göttlicher Gebothe. Denn: daß die Religion nichts als | |||||||
eine Art von Gunstbewerbung und Einschmeichelung bey dem höchsten | |||||||
Wesen sey, in Ansehung deren die Menschen sich nur durch die Verschiedenheit | |||||||
ihrer Meinungen, von der Art, die ihm die beliebteste seyn | |||||||
möchte, unterscheiden ist ein Wahn, der, er mag auf Satzungen oder | |||||||
frey von Satzungen gestimmet seyn, alle moralische Gesinnung unsicher | |||||||
macht und auf Schrauben stellt, dadurch, daß er, ausser dem guten | |||||||
Lebenswandel, noch etwas anderes als ein Mittel annimmt, die | |||||||
Gunst des Höchsten gleichsam zu erschleichen und sich dadurch der | |||||||
genauesten Sorgfalt in Ansehung des ersteren gelegentlich zu überheben, | |||||||
und doch auf den Nothfall eine sichere Ausflucht in Bereitschaft | |||||||
zu haben. | |||||||
Aus diesen Gründen ist es unserem Zögling bis itzt noch unbekannt | |||||||
geblieben, was Andachtshandlung sey. Daher es einiger Kunst | |||||||
bedürfen möchte, ihm, wenn er derselben, Ihrem Gutbefinden nach, | |||||||
zum erstenmale beywohnen müste, davon einen faßlichen und richtigen | |||||||
Begrif beyzubringen. Doch, er ist einem Manne übergeben, der die | |||||||
Weisheit aus ihrer reinen Qvelle zu schöpfen gewohnt ist und dessen | |||||||
Urtheile man alles mit Vertrauen anheim stellen kan. Es wird auch | |||||||
seinem Vater zu der größesten Befriedigung gereichen, wenn sich in | |||||||
der Folge im Philanthropin Gelegenheit hervorfände, die englische | |||||||
Sprache nach der leichten und sicheren dasigen Methode zu erlernen; | |||||||
da er dazu bestimmt ist nach vollendeter Erziehung nach England | |||||||
zu gehen. | |||||||
Pocken und Masern hat das Kind schon überstanden und darf | |||||||
darauf, bey sich etwa an ihm oder anderen eräugnenden Krankheit, | |||||||
nicht Rücksicht genommen werden. | |||||||
Die Pension, von 250 rthlr iährlich, bezahlt der Vater mit Vergnügen, | |||||||
wenn und wie es verlangt werden wird | |||||||
In Ansehung der Kleider, Betten und nothwendigem Geräthe | |||||||
bittet er sich Ew: Hochedelgeb: Vorschlag aus und Nachricht wie es | |||||||
deshalb in Ihrem Institut gehalten wird | |||||||
Was die Zeit betrift, ihn herüber zu schicken, so wünscht der | |||||||
Vater, daß es noch diesen Sommer geschehen möge; damit der Sohn | |||||||
bey einigen Ergötzlichkeiten, welche Sie vor Ihre Zöglinge etwa veranstalten | |||||||
möchten, seinen neuen Aufenthalt bald lieb gewinnen möge. | |||||||
Wenn Ew: Hochedelgeb: nicht sonst eine Gelegenheit bekannt ist, Ihn | |||||||
unter guter Aufsicht herüber zu schaffen, so ist man Vorhabens, ihn | |||||||
gegen Ende des Iulius beym Schlusse unseres Iahrmarkts einem | |||||||
sicheren auswärtigen Kaufmann mit zu geben. | |||||||
Alle diese Anschläge sind nicht unreife Entwürfe, sondern veste | |||||||
Entschließungen. Daher ich hoffe, bald mit Dero gütigen Antwort | |||||||
beehrt zu werden, ohne von einem so sehr und so nützlich beschäftigten | |||||||
Manne etwas mehr, als einen kurzen Bescheid, allenfals durch fremde | |||||||
Hand, zu erwarten. Ich aber bin mit der größesten Theilnehmung | |||||||
an dem erhabenen Geschäfte, welchem Sie sich geweihet haben | |||||||
Ew: Hochedelgeb: | |||||||
Koenigsberg | aufrichtiger Verehrer, Freund | ||||||
d 28sten Mertz: | und Diener | ||||||
1776. | Immanuel Kant. | ||||||
Professor Phil: | |||||||
N. S. Beyliegendes Blatt soll einen kleinen Beweis von der Achtung | |||||||
abgeben, darinn Dero Institut in hiesigen Gegenden zu kommen anhebt. | |||||||
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