Kant: AA XX, Preisschrift über die ... , Seite 327

     
           
 

Zeile:

 

Text (Kant):

 

 

 

 
  01 gefunden, weil sie doch wenigstens besser ist als Irrtum. Aber die      
  02 Vernunft wird dadurch an sich selbst irre, daß sie, durch die sichersten      
  03 Grundsätze geleitet, das Unbedingte auf einer Seite gefunden zu haben      
  04 glaubt, und doch nach anderweitigen, eben so sichern Prinzipien, sich      
  05 selbst dahin bringt, zugleich zu glauben, daß es auf der entgegengesetzten      
  06 Seite gesucht werden müsse.      
           
  07 Diese Antinomie der Vernunft setzt sie nicht allein in einen Zweifel      
  08 des Mißtrauens gegen die eine sowohl als die andre dieser ihrer Behauptungen      
  09 welches doch noch die Hoffnung eines so oder anders entscheidenden      
  10 Urtheiles übrig läßt, sondern in eine Verzweiflung der Vernunft      
  11 an sich selbst, allen Anspruch auf Gewißheit aufzugeben, welches      
  12 man den Zustand des dogmatischen Scepticismus nennen kann.      
           
  13 Aber dieser Kampf der Vernunft mit sich selbst hat das Besondre      
  14 an sich, daß diese sich ihn als einen Zweykampf denkt, in welchem sie, wenn      
  15 sie den Angriff thut, sicher ist, den Gegner zu schlagen, so fern sie aber      
  16 sich vertheidigen soll, ebenso gewiß, geschlagen zu werden. Mit andern      
  17 Worten: sie kann sich nicht so sehr darauf verlassen, ihre Behauptung      
  18 zu beweisen, als vielmehr die des Gegners zu widerlegen, welches gar      
  19 nicht sicher ist, indem wohl alle Beyde falsch urtheilen möchten, oder      
  20 auch, daß wohl Beyde Recht haben möchten, wenn sie nut über den      
  21 Sinn der Frage allererst einverstanden wären.      
           
  22 Diese Antinomie teilt die Kämpfenden in zwey Klassen, davon      
  23 die eine das Unbedingte in der Zusammensetzung des Gleichartigen,      
  24 die andre in der desjenigen Mannigfaltigen sucht, was auch ungleichartig      
  25 seyn kann. Jene ist mathematisch, und geht von den Theilen einer      
  26 gleichartigen Größe durch Addition zum absoluten Ganzen, oder von      
  27 dem Ganzen zu den Theilen fort, deren keiner wiederum ein Ganzes ist.      
  28 Diese ist dynamisch, und geht von den Folgen auf den obersten synthetischen      
  29 Grund, der also etwas von der Folge realiter Unterschiedenes ist,      
  30 entweder den obersten Bestimmungsgrund der Kausalität eines Dinges      
  31 oder den des Daseyns dieses Dinges selbst.      
           
  32 Da sind nun die Gegensätze von der ersten Klasse, wie gesagt, von      
  33 zwiefacher Art. Der, so von den Theilen zum Ganzen geht: Die Welt      
  34 hat einen Anfang, und der: sie hat keinen Anfang, sind beyde      
  35 gleich falsch, und der, welcher von den Folgen auf die Gründe, und so      
  36 synthetisch wieder zurück geht, können, obzwar einander entgegengesetzt,      
  37 doch beyde wahr seyn, weil eine Folge mehrere Gründe haben kann,      
  38 und zwar von transscendentaler Verschiedenheit, nämlich daß der Grund      
  39 entweder Object der Sinnlichkeit oder der reinen Vernunft ist, dessen      
           
           
           
     

[ Seite 326 ] [ Seite 328 ] [ Inhaltsverzeichnis ]