Kant: AA XII, Öffentl. Erklärungen 1799 , Seite 371

     
           
 

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Text (Kant):

 

 

 

 
  01 unterzuschieben: ich habe bloß eine Proprädevtik zur Transscendental=Philosophie,      
  02 nicht das System dieser Philosophie selbst, liefern      
  03 wollen, mir unbegreiflich ist. Es hat mir eine solche Absicht nie in      
  04 Gedanken kommen können, da ich selbst das vollendete Ganze der reinen      
  05 Philosophie in der Crit. der r. V. für das beste Merkmal der Wahrheit      
  06 derselben gepriesen habe. - Da endlich Recensent behauptet, da      
  07 die Critik in Ansehung dessen, was sie von der Sinnlichkeit wörtlich      
  08 lehrt, nicht buchstäblich zu nehmen sey, sondern ein jeder, der die      
  09 Critik verstehen will, sich allererst des gehörigen (Beckischen oder Fichteschen)      
  10 Standpunktes bemächtigen muß, weil der kantische Buchstabe      
  11 eben so gut wie der aristotelische den Geist tödte; so erkläre ich      
  12 hiermit nochmals, daß die Critik allerdings nach dem Buchstaben zu      
  13 verstehen, und bloß aus dem Standpunkte des gemeinen nur zu solchen      
  14 abstracten Untersuchungen hinlänglich cultivirten Verstandes zu betrachten      
  15 ist.      
           
  16 Ein italienisches Sprüchwort sagt: "Gott bewahre uns nur vor      
  17 unsern Freunden, vor unsern Feinden wollen wir uns wohl selbst in      
  18 Acht nehmen." Es gibt nemlich gutmüthige, gegen uns wohlgesinnte      
  19 aber dabey in der Wahl der Mittel unsere Absichten zu begünstigen,      
  20 sich verkehrt benehmende (tölpische), aber auch bisweilen betrügerische,      
  21 hinterlistige, auf unser Verderben sinnende und dabey doch die Sprache      
  22 des Wohlwollens führende ( aliud lingua promptum, aliud pectore inclusum      
  23 gerere ) sogenannte Freunde, vor denen und ihren ausgelegten      
  24 Schlingen man nicht genug auf seiner Huth seyn kann. Aber demungeachtet      
  25 muß die kritische Philosophie sich durch ihre unaufhaltbare Tendenz      
  26 zu Befriedigung der Vernunft in theoretischer sowohl als moralisch      
  27 praktischer Absicht überzeugt fühlen, daß ihr kein Wechsel der Meynungen,      
  28 keine Nachbesserungen oder ein anders geformtes Lehrgebäude bevorstehe,      
  29 sondern das System der Critik auf einer völlig gesicherten      
  30 Grundlage ruhend, auf immer befestigt, und auch für alle künftige Zeitalter      
  31 zu den höchsten Zwecken der Menschheit unentbehrlich sey.      
           
  32 d. 7 ten August 1799.      
           
  33 Immanuel Kant.      
           
           
           
     

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