Kant: AA XII, Briefwechsel undatiert , Seite 354 |
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01 | und sehr ungereimt vorkomt ist dieses; daß in vielen Reichen die Christen | ||||||
02 | Buß und Bitt Lieder absingen. Wenn ich mir vorstelle, daß, wenn ein | ||||||
03 | Mensch einen irdischen König mit singen solte um Gnade bitten, so | ||||||
04 | könte ich nicht anders dencken, als daß ihn der Monarch ins Narren | ||||||
05 | Haus möchte führen laßen, Lob und Danck=Lieder die aus freudigem | ||||||
06 | Hertzen geschehen laß ich passiren, Ich hätte noch vieles auszusetzen, | ||||||
07 | besonders vom Zwang zum Gottes Dienst, und ich kan mir nicht vorstellen, | ||||||
08 | wie Gott einen Gefallen an einem Dienst haben kan, den ein | ||||||
09 | Mensch gezwungen verrichtet. Allein ich will es vor jetzo verschweigen. | ||||||
10 | Ich wiederlegte ihm dieses alles nach möglichkeit, allein er sprach: Mein | ||||||
11 | Herr alles was sie mir sagen, habe ich schon von vielen mündlich | ||||||
12 | gehöret und auch schrifftlich gelesen, allein dieses sind nicht die Gründe | ||||||
13 | die meinen Zweiffel heben können, und dahero halte ich meine Religion | ||||||
14 | noch vor die beste. Ich fragte ihn hierauf worinnen den seine Religion | ||||||
15 | bestehe? Er antwortete: Wir glauben ein ewiges allmächtiges Wesen | ||||||
16 | welches alle Dinge erschaffen hat, alles erhält, und auch alles nach | ||||||
17 | seinem absoluten Willen vernichten kan, Dieses Wesen ist an keinen | ||||||
18 | äußerlichen Gottesdienst gebunden, sondern läst sich wohlgefallen aus | ||||||
19 | was vor eine Weise ihm von den Menschen ein Dienst geleistet wird | ||||||
20 | wenn es nur aus gutter Meinung und von Hertzen geschiehet, Dahero | ||||||
21 | hat er einem jeden Menschen ins Hertze geschrieben was gutt und böses | ||||||
22 | ist, und nachdem der Mensch nach diesem Gesetze der Natur handelt | ||||||
23 | in so weit ist er auch diesem hohen Wesen angenehm, Dabey glauben | ||||||
24 | wir daß Gott einen allgemeinen WeltGeist erschaffen hat, welcher alles | ||||||
25 | durchdringet, und alle Geschöpfe vom Menschen an biß auf den kleinsten | ||||||
26 | Wurm, belebet, nachdem er in einem jeden die Materie organiziret | ||||||
27 | findet, daher sehen wir daß ein Mensch klüger als der andre, ein Thier | ||||||
28 | Lehrhaffter als das andre, ein Baum, Gewächs etc. in beßerem Stande | ||||||
29 | als ein andrer einer fruchtbarer als der andre ein andrer ehender vertrucknet, | ||||||
30 | verdorret, unfruchtbar wird als ein andrer und also nachdem | ||||||
31 | die organa bey den Geschöpfen disponirt sind, also belebt sie auch dieser | ||||||
32 | allgemeine Welt Geist, dieses ist eben der Ruah der nach der Bibel auf | ||||||
33 | dem Wasser schwebte, Wenn nun in einem Cörper die Organa so verdorben | ||||||
34 | werden, daß sie von diesem Geist nicht mehr in Bewegung gebracht, oder | ||||||
35 | belebt werden können, so muß der Mensch, das Thier, der Baum, das | ||||||
36 | Gewächs etc. sterben das ist es kan von diesem Geist nicht mehr belebet | ||||||
37 | werden; alsdenn muß sich das Materielle Wesen in Staub und Asche | ||||||
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