Kant: AA XII, Briefwechsel 1799 , Seite 294 |
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01 | sträuben, sie hätten Sie nicht verstanden, und daß man doch größtentheils | ||||||
02 | mit Recht ihnen diesen Vorwurf machen muß. Nichts hat mich | ||||||
03 | mehr amusirt, als wenn Herder über Mathematik zu schwatzen anhebt; | ||||||
04 | es ist kaum möglich, weniger als er in den Geist dieser Wissenschaft | ||||||
05 | eingedrungen zu sein und doch arroganter darüber zu sprechen. Man | ||||||
06 | kann ihm warlich mit Recht zurufen. Si tacuisses | ||||||
07 | In der litterärischen Welt hat sich nichts von Bedeutung zugetragen. | ||||||
08 | Fichte befindet sich noch hier, ich habe ihn im Schauspielhause | ||||||
09 | gesehen, aber nicht gesprochen. Er lebt sehr eingezogen und | ||||||
10 | hat außer Gedicke, niemanden von den hiesigen Gelehrten besucht. | ||||||
11 | Man sagt, er sei beim Staatsrath um die Erlaubniß in Berlin öffentliche | ||||||
12 | Vorlesungen halten zu können, eingekommen, dieser aber habe | ||||||
13 | sein Gesuch abgeschlagen. Ietzt beschäftigt er sich blos mit Schriftstellerei | ||||||
14 | und arbeitet, wie mir Ben David erzählte an einem philosophischen | ||||||
15 | Werk, das er in drei Bänden mit den Titeln: Wissen, Zweifel, Glauben | ||||||
16 | herausgeben will. Von dem Ertrage des Bücherschreibens möchte er | ||||||
17 | wohl schwerlich leben konnen, allein ich glaube, daß er mit seiner Frau | ||||||
18 | ein betrachtliches Vermögen erheirathet hat. | ||||||
19 | Einiges Aufsehen macht hier Diogenes mit der Laterne, den man | ||||||
20 | allgemein dem Prediger Iänisch zuschreibt. Das Werk ist cynisch. | ||||||
21 | Der Verfasser hat es auch mit der kritischen Philosophie, die er aber | ||||||
22 | meines Erachtens wohl nicht durchaus gefaßt haben möchte, hin und | ||||||
23 | wieder zu thun. Von Ihnen erzählt er drei Urtheile, über Reinhold, | ||||||
24 | Beck und Fichte, deren Wahrheit ich dahin gestellt sein laße. Sollte | ||||||
25 | Iänisch wirklich der Verf[asser] sein, so würde es ihm gewiß nicht zur | ||||||
26 | Ehre gereichen. | ||||||
27 | Nikolai phantasirt noch immer über kritische Philosophie und Fichtianismus; | ||||||
28 | und nun er Academicien geworden, hält er es für Pflicht | ||||||
29 | sein Geschreibsel zu verdoppeln. | ||||||
30 | Sie werden aus den Berliner Zeitungen gesehen haben, daß in | ||||||
31 | Berlin gewaltig viel Vorlesungen angekündigt werden, wenn sie gleich | ||||||
32 | nicht zur Hälfte zu Stande kommen. Ich muß ex officio sehr viel | ||||||
33 | Vorlesungen halten, allein ich bin doch mit meinem applausu zufrieden | ||||||
34 | und die Anzahl meiner Zuhörer nimmt von Iahr zu Iahr zu. Sonntags | ||||||
35 | von 10 bis 12 lese ich über Ihre Anthropologie und mein ziemlich | ||||||
36 | großer Hörsaal ist gedrängt voll. Ich zähle Personen von allen | ||||||
37 | Ständen, Studirende, Bürger, Offizire etc. zu meinen Zuhörern. | ||||||
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