Kant: AA XII, Briefwechsel 1798 , Seite 255

     
           
 

Zeile:

 

Text (Kant):

 

 

 

 
  01 kleine Schrift, welche die Resultate vieler meiner Meditationen zusammengedrängt      
  02 enthält, erfahre, und wenn ich zugleich von Ihren freundschaftlichen      
  03 Gesinnungen versichert werde.      
           
  04 Ich wünschte zwar auch, Ihr Urtheil über die neuesten Fortschritte,      
  05 welche einige Ihrer Schüler, besonders Fichte, glauben, in der Philosophie,      
  06 seit der Erscheinung der Critik gemacht zu haben, zu wissen.      
  07 Aber Sie können billige Ursachen haben, warum Sie weder öffentlich      
  08 noch in Privatbriefen ein entscheidendes Urtheil darüber fällen wollen.      
  09 Ich selbst bin nur sehr oberflächlich davon unterrichtet. Ich habe die      
  10 Schwierigkeiten der Critik überwunden; und ich bin im Ganzen, dafür      
  11 belohnt worden. Aber ich habe nicht das Herz noch die Kraft, mich      
  12 den noch weit größern Schwierigkeiten zu unterziehen, welche mir die      
  13 Lectüre der Wissenschaftslehre machen würde. Ietzt macht meine täglich      
  14 wachsende Krankheit mir solche überfeine Speculationen ohnedie      
  15 unmöglich. Ich würde Ihnen hier meinen Zustand schildern, der gewisser      
  16 Maßen eben so merkwürdig und sonderbar als kläglich ist: aber      
  17 eine genaue Beschreibung desselben würde ein weitläuftiges Werk seyn,      
  18 wozu es mir an Kräften gebricht; und ohne Genauigkeit, wozu kann      
  19 eine solche Schilderung dienen? Ein äußerer Schaden, der vor ungefähr      
  20 dreyzehn Iahren, sehr unschuldig scheinend, am rechten Nasenflügel,      
  21 nicht weit vom Augenwinkel entstand, - der eigentlich nicht Krebs      
  22 nach allen Symptomen, aber darin vollkommen krebsartig ist, daß er      
  23 sich nicht bloß nach der Oberfläche sondern im kubischen Verhältnisse      
  24 erweitert, u. eben so tief aushöhlt als weit er sich ausbreitet, und der      
  25 endlich allen Heilmitteln widerstand, zu welchen freylich der Nachbarschaft      
  26 des Auges wegen keine ätzenden Mittel, vielleicht die wirksamsten      
  27 in solchen Fällen, gebraucht werden konnten: - dieser Schaden hat      
  28 nunmehr das ganze rechte Auge und einen Theil der rechten Wange      
  29 verzehrt, hat eine ebenso große Höhle in den Kopf gebohrt und Zerstöhrungen      
  30 einer seltnen Art angerichtet. Es scheint unmöglich, da      
  31 ein Mensch dabey leben könne; es scheint noch unmöglicher, daß er dabey      
  32 denken, und selbst mit einem gewissen Scharfsinn und einer ExAltation      
  33 des Gemüthes denken könne: und doch ist beydes wahr. Dieser unwahrscheinliche      
  34 aber glückliche Umstand hat mir, der ich von Schwäche      
  35 u. Schmerz wechselsweise geplagt u. von der menschlichen Gesellschaft      
  36 entfernt bin, die vorzüglichste Erleichterung und den Trost meines Lebens      
  37 verschafft. Nie habe ich die Schönheit eines Verses, die Bündigkeit      
           
     

[ Seite 254 ] [ Seite 256 ] [ Inhaltsverzeichnis ]