Kant: AA XII, Briefwechsel 1796 , Seite 099 |
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01 | Wien, und von da zurücke nach Salzburg und München. Ich hatte | ||||||
02 | bey den vielen Bekanntschaften, die ich da machte, Gelegenheit genug, | ||||||
03 | den Zustand der Philosophie kennen zu lernen. Die kritische Philosophie | ||||||
04 | ist in der oesterreichischen Monarchie als Feindinn erkärt, und | ||||||
05 | wehe dem, der sie lehren will. Der Kaiser ist ganz dagegen eingenommen, | ||||||
06 | und da ihm der Direktor der Schulen und des Studiums | ||||||
07 | in Wien H. v. Birkenstock das kritische Sistem anprieß, so drehte | ||||||
08 | sich der Kaiser herum, und sagte: ich will einmal für allemal von | ||||||
09 | diesem gefährlichen Sisteme nichts wissen. Ich lernte in Wien | ||||||
10 | einen H. v. Delling kennen, der von seiner Professur in Fünfkirchen | ||||||
11 | war abgesetzt worden, weil er nach kritischen Grundsätzen gelesen | ||||||
12 | hatte. Man hatte wohl gegen drey Iahre lang Kabalen gegen | ||||||
13 | ihn gemacht, allein er hielt sich immer noch fest. Im verflossenen | ||||||
14 | Sommer aber machte sich die ganze hohe Geistlichkeit in Ungarn | ||||||
15 | hinter ihm her, und er mußte seine Professur verliehren. Im | ||||||
16 | Dekrete, das ihn entsetzte, hieß es unter andern: propter perniciosum | ||||||
17 | Sistema ad Scepticismum ducens . Ferner legte man ihm zur Last, | ||||||
18 | daß er auf die Beschuldigung geantwortet, und eine Vertheidigung | ||||||
19 | der kritischen Philosophie herausgegeben habe, da man ihn doch aufgefodert | ||||||
20 | hatte, sich zu vertheidigen. Endlich heißt es, man sehe sich | ||||||
21 | gedrungen, ihn zu entfernen, da man wohl einsehe, daß er von seinen | ||||||
22 | Grundsätzen nicht zu heilen sey, da er die kritische Philosophie vertheidigt | ||||||
23 | habe. Iedoch wächst dle Parthey der kritischen Philosophie | ||||||
24 | im heimlichen, zudem da die ungarischen Protestaten, theils in Iena; | ||||||
25 | theils in Halle studiren, und die neuen Grundsätze mit nach Hause | ||||||
26 | bringen. Auch traf ich in Wien den Rektor der Philosophie von | ||||||
27 | Grätz H. v. Albertini, der eben auch, da er die kritische Philosophie | ||||||
28 | schützte, sein Rektorat verlohr. Es giebt in der oesterreichischen Monarchie | ||||||
29 | manchen Mann, der sehr gut für das neue Sistem ist, wie | ||||||
30 | man mich versicherte. In Wien jedoch wird nie viel zu Stande | ||||||
31 | kommen, da es ganz an gelehrtem Gemeingeiste fehlt, und die Professoren | ||||||
32 | an der Universität einander nicht kennen: denn es ist reiner | ||||||
33 | Zufall, der hier einen oder den andern zusammenführt. In Salzburg | ||||||
34 | geht es schon besser mit der kritischen Philosophie: besonders verwendet | ||||||
35 | sich der würdige Regent des Priesterhauses dafür. Allein | ||||||
36 | viele sind noch dagegen, und man muß stets Würzburg erst als Beyspiel | ||||||
37 | anführen, daß ein Satz sein Glück mache. Der Fürst hat ein | ||||||
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