Kant: AA XI, Briefwechsel 1794 , Seite 510 |
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Text (Kant):
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| 01 | sey, und ob wohl die Critick im Cirkel gehe, wenn sie die Möglichkeit | ||||||
| 02 | der Erfahrung zum Princip der synthetischen Urtheile a priori mache, | ||||||
| 03 | und doch das Princip der Causalität in den Begriff dieser Möglichkeit | ||||||
| 04 | verstecke, ich sage, daß man von alle diesem, ja von dem discursiven | ||||||
| 05 | Begriff: Möglichkeit der Erfahrung selbst, allererst dann, vollendete | ||||||
| 06 | Erkundigung erhalten kann, wenn man sich dieses Standpuncts vollkommen | ||||||
| 07 | bemeistert hat, und daß, solange man diese Möglichkeit der | ||||||
| 08 | Erfahrung nur noch immer selbst bloß discursiv denkt, und nicht die ursprünglich | ||||||
| 09 | beylegende Handlung, eben in einer solchen Beylegung selbst | ||||||
| 10 | verfolgt, man so viel wie nichts einsieht, sondern wohl eine Unbegreiflichkeit | ||||||
| 11 | in die Stelle einer andern schiebt. Ihre Critick aber führt, | ||||||
| 12 | wie ich sage, nur nach und nach, ihren Leser auf diesen Standpunct | ||||||
| 13 | und da konnte nach dieser Methode, sie gleich anfänglich, als in der | ||||||
| 14 | Einleitung, die Sache nicht vollkommen aufhellen, und die Schwierigkeiten | ||||||
| 15 | die dabey sich aufdecken, sollten den nachdenkenden Mann zum | ||||||
| 16 | beharrlichen Ausdauern locken. Weil aber die wenigsten Leser sich | ||||||
| 17 | jenes höchsten Standpuncts zu bemächtigen wissen, so werfen sie die | ||||||
| 18 | Schwierigkeit auf den Vortrag, und bedenken nicht, daß sie der Sache | ||||||
| 19 | anklebe, die sich gewiß verliehren würde, wenn sie einmahl im Stande | ||||||
| 20 | wären, die Forderung zu überdenken, die synthetische Einheit des Bewußtseyns | ||||||
| 21 | hervorzubringen. Ein Beweis aber, daß die Freunde der Critik doch | ||||||
| 22 | auch nicht recht wissen, woran sie sind, ist schon das, daß sie nicht recht | ||||||
| 23 | wissen, wohin sie den Gegenstand setzen sollen, welcher die Empfindung | ||||||
| 24 | hervorbringt. | ||||||
| 25 | Ich habe mir daher vorgenommen, diese Sache, wahrlich doch die | ||||||
| 26 | Hauptsache der ganzen Critik, recht zu betreiben, und arbeite an einem | ||||||
| 27 | Aufsatz, worin ich die Methode der Critick umwende. Ich fange von | ||||||
| 28 | dem Postulat der ursprünglichen Beylegung an, stelle diese Handlung | ||||||
| 29 | in den Categorien dar, suche meinen Leser in die Handlung selbst zu | ||||||
| 30 | versetzen, in welcher sich diese Beylegung an dem Stoffe der Zeitvorstellung | ||||||
| 31 | ursprünglich offenbart - Wenn ich nun so glaube meinen | ||||||
| 32 | Leser gänzlich auf die Stelle gesetzt zu haben, auf der ich ihn haben | ||||||
| 33 | will, so führe ich ihn zur Beurtheilung der Critik d. r. V. in ihrer | ||||||
| 34 | Einleitung, Aesthetik und Analytik. Sodann will ich ihn die vorzüglichsten | ||||||
| 35 | Einwürfe, beurtheilen lassen, insbesondere die des Verfassers | ||||||
| 36 | des Aenesidemus. | ||||||
| 37 | Was urtheilen Sie wohl davon? Ihr Alter drükt Sie, und ich | ||||||
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