Kant: AA XI, Briefwechsel 1793 , Seite 449 |
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Text (Kant):
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| 01 | zu bezeugen, welche Sie sich auch um meine moralische und intellectuelle | ||||||
| 02 | Bildung erworben haben. Arbeiten des Geistes haben keinen süßeren | ||||||
| 03 | Lohn, als die Überzeugung, selbst errungene Grundsätze in fremden | ||||||
| 04 | Geistern keimen zu sehn, dadurch einen neuen Vermuthungsgrund für | ||||||
| 05 | ihre Allgemeingültigkeit und für ihre ewige Wirksamkeit unter unserm | ||||||
| 06 | Geschlechte zu erhalten, und sich auf diese Weise der edelsten Art von | ||||||
| 07 | Unsterblichkeit zu versichern. Oft habe ich mich seit einigen Iahren | ||||||
| 08 | darüber gefreuet, daß Ihnen dieser Lohn in immer höherem Maße zu | ||||||
| 09 | Theil wird, und ich wünsche von ganzer Seele, daß Sie noch viele | ||||||
| 10 | Iahre unter uns zubringen möchten, um immer mehrere von den segenvollen | ||||||
| 11 | Früchten der Reife nahen zu sehn, die ich von der allgemeinen | ||||||
| 12 | Annahme Ihres Systems für die Menschheit erwarte. Diese Erwartung | ||||||
| 13 | ist bei mir so unerschütterlich, daß ich, seitdem ich mit dem Geiste | ||||||
| 14 | desselben vertraut zu seyn glaube, es mir zu dem höchsten Zweck meines | ||||||
| 15 | Lebens gemacht habe, alle meine Kräfte zur allgemeineren Verbreitung | ||||||
| 16 | eines Lehrgebäudes zu verwenden, in welchen ich endlich die Beruhigung | ||||||
| 17 | gefunden habe, die ich bei den übrigen so ganz vergebens suchte, da | ||||||
| 18 | ich, vor dem Lesen der Kritik der reinen Vernunft, im Begriffe war, | ||||||
| 19 | neue Gründe für den dogmatischen Scepticism aufzusuchen, den ich noch | ||||||
| 20 | für das haltbarste der bisherigen Systeme hielt, und den Streit | ||||||
| 21 | zwischen der speculativen und praktischen Vernunft für einen gordischen | ||||||
| 22 | Knoten zu erklären, der wohl zerhauen, aber nicht gelöset werden | ||||||
| 23 | könnte. Vielleicht hat mich aber mein Eifer für das System im | ||||||
| 24 | Ganzen in die Gefahr gesetzt, hie und da in dem Einzelnen etwas zu | ||||||
| 25 | übersehen oder mißzuverstehen, uud so wider Willen Irrthum verbreiten | ||||||
| 26 | zu helfen. Von dieser Besorgniß bin ich nicht gänzlich frei, ob ich | ||||||
| 27 | mir gleich die Gerechtigkeit wiederfahren lassen muß, daß ich nichts | ||||||
| 28 | niederschrieb, was ich nicht nach meinem Vermögen durchdacht, und | ||||||
| 29 | wovon ich mich nicht völlig überzeugt gefunden hätte. Und hierin liegt | ||||||
| 30 | die Entschuldigung der Freiheit, die ich mir nehme, Maimons Auftrag | ||||||
| 31 | zu überschreiten, indem ich Ihnen, außer Bacon's Organon, zugleich | ||||||
| 32 | sechs Stücke von dem Iournal für Gemeingeist überschicke, in welchem | ||||||
| 33 | ich den Versuch gemacht habe, einige Sätze der praktischen Philosophie | ||||||
| 34 | zu popularisiren. Sollten Sie einmahl Zeit und Lust haben, meine | ||||||
| 35 | Abhandlungen über Wesen und Ausdehnung des Gemeingeistes, und | ||||||
| 36 | über die Märtyrer, so wie meine Fragmente von Alminar und Cesario | ||||||
| 37 | durchzulesen; so würden diese, zusammengenommen mit meiner Vorrede | ||||||
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