Kant: AA XI, Briefwechsel 1792 , Seite 322 |
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01 | nur aus Accomodation für Schwache in einer sinnlichen Hülle aufzustellen | ||||||
02 | die Absicht hege, und dieselbe insofern auch, ob zwar blos | ||||||
03 | subjective Wahrheit haben könne, findet bei jenen Censurgrundsätzen | ||||||
04 | gar nicht statt; denn diese fordern Anerkennung der objectiven Wahrheit | ||||||
05 | derselben nach dem Buchstaben. | ||||||
06 | Ein Weg bliebe Ihnen aber doch noch übrig, Ihre Schrift mit | ||||||
07 | den (doch nicht völlig bekannten) Ideen des Censors in Uebereinstimmung | ||||||
08 | zu bringen: wenn es Ihnen gelänge, ihm den Unterschied zwischen einem | ||||||
09 | dogmatischen, über allen Zweifel erhabenen Glauben und einem blos | ||||||
10 | moralischen, der freien, aber auf moralische Gründe (der Unzulänglichkeit | ||||||
11 | der Vernunft, sich in Ansehung ihres Bedürfnisses selbst Genüge | ||||||
12 | zu leisten) sich stützenden Annehmung begreiflich und gefällig zu | ||||||
13 | machen; da alsdann der auf Wunderglauben durch moralisch gute Gesinnung | ||||||
14 | gepfropfte Religionsglaube ungefähr so lauten würde: "Ich | ||||||
15 | glaube, lieber Herr! (d. i. ich nehme es gern an, ob ich es gleich weder | ||||||
16 | mir noch andern hinreichend beweisen kann); hilf meinem Unglauben!" | ||||||
17 | D. h. den moralischen Glauben in Ansehung alles dessen, was ich aus | ||||||
18 | der Wundergeschichtserzählung zu innerer Besserung für Nutzen ziehen | ||||||
19 | kann, habe ich und wünsche auch den historischen, sofern dieser gleichfalls | ||||||
20 | dazu beitragen könnte, zu besitzen. Mein unvorsätzlicher Nichtglaube | ||||||
21 | ist kein vorsätzlicher Unglaube. Allein Sie werden diesen | ||||||
22 | Mittelweg schwerlich einem Censor gefällig machen, der, wie zu vermuthen | ||||||
23 | ist, das historische Credo zur unnachläßlichen Religionspflicht | ||||||
24 | macht. | ||||||
25 | Mit diesen meinen in der Eile hingelegten, ob zwar nicht unüberlegten | ||||||
26 | Ideen können Sie nun machen, was Ihnen gut däucht, ohne | ||||||
27 | jedoch auf den, der sie mittheilt, weder ausdrücklich noch verdeckt Anspielung | ||||||
28 | zu machen; vorausgesetzt, daß Sie sich vorher von deren | ||||||
29 | Wahrheit selbst aufrichtig überzeugt haben. | ||||||
30 | Uebrigens wünsche ich Ihnen in Ihrer gegenwärtigen häuslichen | ||||||
31 | Lage Zufriedenheit und im Falle eines Verlangens, sie zu verändern, | ||||||
32 | Mittel zu Verbesserung derselben in meinem Vermögen zu haben, und | ||||||
33 | bin mit Hochachtung und Freundschaft | ||||||
34 | Ew. Wohlgeboren | ||||||
35 | Königsberg, den 2. Febr. 1792. | ergebenster Diener | |||||
36 | I. Kant. | ||||||
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