Kant: AA XI, Briefwechsel 1790 , Seite 216 |
|||||||
Zeile:
|
Text (Kant):
|
|
|
||||
01 | über Paris genommen habe, und ich hoffe, daß Sie dieses nicht misbilligen | ||||||
02 | werden. Die Ursachen die mich zu dieser Abänderung in | ||||||
03 | meinem Plane bestimmten, waren, weil ich nach genauer Berechnung | ||||||
04 | fand, daß der Unterschied in den Unkosten, ich möchte wählen welchen | ||||||
05 | Weg ich wollte, keinesweges beträchtlich war, und weil ich auf jeden | ||||||
06 | Fall zu spät nach Göttingen kam, um die hiesige Lehrer und Bibliothek | ||||||
07 | gehörig benutzen zu können. Der Hauptgrund meiner Reise aber nach | ||||||
08 | Paris war, um an diesem Ort in der Hauptepoche seiner Geschichte | ||||||
09 | zu seyn, da ich ihm einmahl so nahe war. Auf diese Weise bin ich | ||||||
10 | also Zeuge des großen Bundesfestes der Franzosen gewesen; wie ich | ||||||
11 | mich denn auch bemühet habe, Augen und Ohrenzeuge zu seyn von | ||||||
12 | jeder merkwürdigen Begebenheit, die sich während meinem Aufenthalt | ||||||
13 | in Paris ereignet hat. - Im Anfange glaubte ich mich im Lande | ||||||
14 | der Glüklichen zu befinden; denn jeder auch der geringste Einwohner | ||||||
15 | schien durch sein Betragen und durch seine Worte zu bezeigen wie sehr | ||||||
16 | er es fühle, daß er in einem Lande lebe, wo man das Ioch und den | ||||||
17 | Druck der Großen völlig abgeschüttelt habe, und wo Freyheit und die | ||||||
18 | Rechte der Menschheit im Allgemeinen aufs höchste geehrt und in ihrer | ||||||
19 | Würde erhalten wurden. Ich stand daher auch gar nicht an, jetzt | ||||||
20 | Frankreich in dieser Rüksicht dem Lande des stolzen Britten vorzuziehen, | ||||||
21 | der alle andere Nationen verachtet und sie als Sclaven ansieht, | ||||||
22 | obgleich sich gegen die brittische Freyheit noch manches erwähnen ließe. | ||||||
23 | Einige Tage vor und nach dem Bundesfeste sahe man in Paris Beyspiele | ||||||
24 | von Patriotism, Gleichheitsliebe in allen Ständen etc realisirt, | ||||||
25 | die man sonst kaum gewagt hatte sich träumen zu lassen. Dieser Geist | ||||||
26 | schien aber nur zu herschen so lange man das Volk durch Feste, | ||||||
27 | Tänze und Schmausereyen unterhielt und ihm auf mancherley Art | ||||||
28 | vorgaukelte. Sobald man diese einstellte und die Deputirten aus den | ||||||
29 | Provinzen sich zurückzogen, so hörte man von allen Seiten Klagen | ||||||
30 | und Unzufriedenheit laut werden, selbst unter denenjenigen, die sich | ||||||
31 | für ächte Freunde der Revolution erklärt hatten. Sehr viele adliche | ||||||
32 | und bürgerliche, obgleich patriotisch gesinnte Familien fiengen bald an | ||||||
33 | sich zu beschweren, daß die National=Versamlung in ihren decreten | ||||||
34 | und Neuerungen zu weit gehe, daß es weit zu frühe sey gewiße Misbräuche | ||||||
35 | durch absolute Gesetze einzustellen, die bey der jetzigen Staatsverfassung | ||||||
36 | ohne Erfolg und Nachtheil wären und die die bloße Zeit | ||||||
37 | völlig entkräften und unbedeutend machen würde, ohne, wie jetzt dergleichen | ||||||
[ Seite 215 ] [ Seite 217 ] [ Inhaltsverzeichnis ] |