Kant: AA XI, Briefwechsel 1790 , Seite 214 |
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01 | seicht geworden daß die Seichtigkeit selbst bey Leuten die nicht viel | ||||||
02 | Nachdenken anwenden wollen sich doch nicht in Ansehn erhalten könne. | ||||||
03 | Ew. Wohlgeb. haben das grosse Verdienst die Erkänntniß dieser | ||||||
04 | Seichtigkeit beschleunigt zu haben und die Philosophen auf Anstrengung | ||||||
05 | des Verstandes, und zusammenhängendes Denken wiederum zu führen. | ||||||
06 | Werden Ihre Bemühungen mißverstanden, so dächte ich, durch deutliche | ||||||
07 | Erklärung und Bestimmung der Wörter und Redensarten liesse sich | ||||||
08 | solches heben. Es ist freilich die Sitte der jzigen Schriftsteller, Wörter | ||||||
09 | nachzubrauchen ohne recht zu wissen was sie bedeuten, ein Fehler über | ||||||
10 | den man sonst bey dem gemeinen Mann lachte wenn der Französische | ||||||
11 | Wörter mißhandelte aber jezo kann man ihn bey Gelehrten belachen. | ||||||
12 | Und da ist dann natürlich, daß Leute über Wörter streiten mit denen | ||||||
13 | sie nich die gehörigen Begriffe, manchmahl gar keine verbinden. Ew. | ||||||
14 | W. haben einmahl ich glaube in der Berliner Monatsschrift eine vortreffliche | ||||||
15 | Erläuterung gegeben was orientiren heißt. Wollten Sie dergleichen | ||||||
16 | mit mehrern Modewörtern vornehmen so würden Sie sich um | ||||||
17 | den jezigen philosophischen jargon viel Verdienst erwerben. Die | ||||||
18 | Franzosen haben längst ihrem Witze die Freyheit gelassen ein auch | ||||||
19 | längst bekanntes Wort, mit einem Nebenbegriffe zu brauchen den man | ||||||
20 | aus der Art wie es gebraucht wird errathen soll, und vielleicht nicht | ||||||
21 | ganz richtig erräth. Braucht nun ein Deutscher das Wort nach, | ||||||
22 | natürlich in einem andern Zusammenhange als es zuerst gebraucht | ||||||
23 | ward, so ist manchmahl die Frage was das Wort bedeutet eine unbestimmte | ||||||
24 | Aufgabe. So haben die thierischen Magnetisirer von | ||||||
25 | Desorganisiren, manipuliren . . . geschwatzt, und jezo ist Organisation, | ||||||
26 | Manipulation, bey den Statistikern gewöhnlich da ich nicht verstehe | ||||||
27 | was sie damit haben wollen. Soviel sehe ich wohl daß Frankreich | ||||||
28 | durch die Manipulationen der Nationalversammlung ziemlich desorganisirt | ||||||
29 | ist. | ||||||
30 | Ew. Wohlgeb. stellen auch sehr oft den Philosophen das Verfahren | ||||||
31 | der Mathematikverständigen zum Beyspiele vor, und werden mich also | ||||||
32 | desto eher entschuldigen wenn ich mich nur auf dieses Verfahren mit | ||||||
33 | dem ich am bekanntesten bin einschränke; allenfalls manchmahl die | ||||||
34 | Philosophen frage ob sie es nicht auch so machen könnten? Daß es | ||||||
35 | ganz angeht glaube ich nicht, weil die philosophischen Begriffe, nicht | ||||||
36 | so leicht gestatten dem Verstande durch sinnliche Bilder zu Hülfe zu | ||||||
37 | kommen. | ||||||
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