Kant: AA XI, Briefwechsel 1790 , Seite 149 |
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| 01 | der Wissenschaften. Hernach hab' ich in Greifswald ein paar | ||||||
| 02 | Iahre studirt. Zween meiner Lehrer nahmen mich besonders in | ||||||
| 03 | Affekzion, die beiden Philosophen der Akademie, Ahlward, ein siebzigjähriger | ||||||
| 04 | Dogmatiker, und Muhrbek ein Eklektiker, beide von sehr vortreflichen | ||||||
| 05 | Herzen. Mit diesen stieg ich in alle Abgründe der Metaphysik | ||||||
| 06 | hinab, und fand, wie natürlich, wenig Trost. Vorhin war an | ||||||
| 07 | Gott, Tugend und Unsterblichkeit mir kein Zweifel eingekommen. Izt | ||||||
| 08 | kont' ich sie demonstriren, und zweifelte im Herzen - In meinem | ||||||
| 09 | Leben hab' ich nicht begreifen können, wie ein so dürrer unfruchtbarer | ||||||
| 10 | Satz, wie der des Wiederspruchs, eine Fundgrube von Entdekkungen | ||||||
| 11 | sein könne. In meinem Leben nicht, wie ich berechtigt sei, von meinen | ||||||
| 12 | Bedürfnissen, auf die objektive Realität des Bedurften zu schliessen. | ||||||
| 13 | Muhrbek glaubte an den Cartesianischen Beweis, Ahlward an den | ||||||
| 14 | kosmologischen. Bis zum Irrewerden hab, ich jenen zu fassen gearbeitet | ||||||
| 15 | und hab' es nicht vermocht. Diesen lies ich als ein sehr brauchbares | ||||||
| 16 | Raisonnement ad hominem gelten - Endlich scheitert' ich an dem | ||||||
| 17 | Problem der Freiheit. Muhrbek gab es für blosse Logomachie aus. | ||||||
| 18 | Ich fühlte das besser, sahe die Unauflöslichkeit des Dilemms, verzweifelte | ||||||
| 19 | nun, nicht an der Wissenschaft, sondern an meinem Gruzkopf, | ||||||
| 20 | glaubte, die leidige Schöngeisterei habe mich für alle Spekulazion | ||||||
| 21 | stumpf gemacht, entsagte ihr, warf mich in die Mathese, bei der ich | ||||||
| 22 | mir sehr wol sein lies, studirte dabei fleissigst, alles was Historie | ||||||
| 23 | heisst und heissen mag, las die Alten, und spielte mir zuweilen ein | ||||||
| 24 | Stükchen auf meiner Leier vor, wovon anbei eine ganze Frachtladung | ||||||
| 25 | erfolgt - Unter solchen Umständen gedieh ich kümmerlich zum SchulRektor | ||||||
| 26 | dieses Orts, wo ich in dieser Stunde den Horaz und Tazitus | ||||||
| 27 | lese, in jener mensa decliniren lasse, izt über die Zentralkräffte dozire, | ||||||
| 28 | izt über das Amt der Schlüssel - denn meine Kollegen sind alt oder | ||||||
| 29 | unfähig, und der Unterricht eines Hunderts Knaben, die Handwerker, | ||||||
| 30 | Schiffer, Kaufleute, Pastores und Professores werden wollen, ruht fast | ||||||
| 31 | allein auf meinen Schultern. Glüklicherweise verlässt meine Telyn und | ||||||
| 32 | meine gute Laune mich nicht, obgleich meine Gesundheit sehr in den | ||||||
| 33 | Legerwall geräth, wie man an diesem schifffahrenden Orte sagt; | ||||||
| 34 | denn um zu leben (Ich hab ein liebes Weib, und ein einziges holdes | ||||||
| 35 | Töchterchen - dreissig Iahr bin ich alt) mus ich von 24 Stunden | ||||||
| 36 | 15 arbeiten; und meinem ungeduldigen Feuertemperament will das | ||||||
| 37 | Sizzen wenig behagen. Iedoch ich verirre mich. Ich wollte Ihnen | ||||||
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