Kant: AA XI, Briefwechsel 1789 , Seite 118

     
           
 

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Text (Kant):

 

 

 

 
  01 Ob ein Fürst schuldig sey, sein Volk wohl zu regieren?      
           
  02 Diesen Aufsatz habe ich gegen eine Recension meiner Schrift wider      
  03 Garven in den Göttingischen Zeit. gerichtet. Der Recensent giebt zu      
  04 verstehen, daß er ein Iurist sey, und gedenkt eines Fürsten, der deswegen      
  05 die Theorie vom geselligen Vertrage nicht leiden könne, weil sie      
  06 die Bewegungsgründe zum Guten schwäche, indem sie alles zu sehr      
  07 zur Schuldigkeit mache.      
           
  08 Da ich dabey die ersten Gründe der Sittlichkeit habe berühren      
  09 müssen, so bitte ich, diesen Aufsatz einiger Aufmerksamkeit zu würdigen,      
  10 und mich, wenn ich nicht auf dem rechten Weg seyn sollte, freundschaftlich      
  11 zu recht zu weisen.      
           
  12 Ich habe bey verschiedenen Gelegenheiten und in verschiedenen      
  13 Schriften dawider geeifert, daß man die Fürsten Väter des Vaterlandes      
  14 nennt. Ich freue mich, daß diese Aeußerung, die vielen befremdlich      
  15 vorkam, in Ihrer Theorie eine Stütze findet.      
  16 Ich bin daher auch darin mit Ihnen einig, daß eine Glückseeligkeit,      
  17 welche durch gewaltsame Einschränkung der Freyheit befördert      
  18 werden soll, nicht das Ziel des Gesetzgebers seyn dürfe. Ich würde      
  19 daher auch weder für die erzogenen Kinder ein Pflichttheil, noch für      
  20 den bedrängten Schuldner ein Indult einführen. Die Frage ist nur:      
  21 ob es die Pflicht des Gesetzgebers sey, dergleichen Einschränkungen      
  22 der Freyheit, woran man schon gewöhnt ist, schlechterdings abzuschaffen?      
  23      
           
  24 Ich zweifle. Was seit langen Zeiten gebräuchlich gewesen ist, scheint      
  25 den Willen des Volks für sich zu haben. Da ich nun durch Verträge      
  26 meine Freyheit einschränken darf, so weit ich mir dadurch nicht die      
  27 Macht benehme, unerläßliche Pflichten zu erfüllen: So läßt sich wohl,      
  28 wie ich glaube, die Beybehaltung solcher Gebräuche entschuldigen.      
  29 Ich fühle selbst, daß ich hier nicht füglich das Wort: rechtfertigen      
  30 brauchen kann: aber was ist zu thun? Unsre Gesetze sind voll von      
  31 solchen willkührlichen Einschränkungen. Ein Gesetzgeber, welcher auf      
  32 einmahl zu große Veränderungen vornehmen wollte, würde nichts gegen      
  33 die herrschende Meinung ausrichten. Das Volk kann ohnedieß nicht      
  34 auf einmahl mündig werden, und man muß es also nach und nach      
  35 aus der väterlichen Gewalt entlassen. Ich wünschte wohl hierüber gelegentlich      
  36 Ihre Meinung zu erfahren.      
           
           
     

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