Kant: AA XI, Briefwechsel 1789 , Seite 104

     
           
 

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Text (Kant):

 

 

 

 
  01 Da ich meinen Theismus überall nur aus dem allgegenwärtigen      
  02 facto menschlicher Intelligenz, aus dem Daseyn von Vernunft und      
  03 Freyheit hergeleitet habe; so konnte ich die Möglichkeit einer Beziehung      
  04 auf meine Theorie nicht einsehen Von der ersten Ausgabe      
  05 meines Buches weis ich, daß sie dunkle Stellen enthielt; ich glaube      
  06 aber seitdem alle Zweydeutigkeit gehoben, und jetzt in der neuesten      
  07 Ausgabe meine Ueberzeugung klar genug dargelegt zu haben. Ich      
  08 behaupte nehmlich eine dem Menschen eben so evidente als unbegreiffliche      
  09 Verknüpfung des Sinnlichen mit einem Uebersinnlichen, des      
  10 Natürlichen mit einem Uebernatürlichen, welche, so bald sie als gewiß      
  11 vorhanden wahrgenommen und erkannt ist, dem anscheinenden Widerspruche      
  12 der Vernunft mit sich selbst eine befriedigende Auslösung verschafft.      
  13 Wie sich das Bedingte auf ein erstes Unbedingtes; wie sich      
  14 jede Empfindung auf eine reine Vernunft, auf Etwas das sein      
  15 Leben in sich selbst hat zuletzt bezieht: so bezieht aller Mechanismus      
  16 sich zuletzt auf ein nicht mechanisches Prinzip der Aeußerung und      
  17 Verkettung seiner Kräfte; alles Zusammengesetzte auf ein Nichtzusammengesetztes      
  18 der Unzertrennlichkeit; alles nach Gesetzen physischer Nothwendigkeit      
  19 erfolgendes auf etwas Nichterfolgtes, ursprünglich handelndes,      
  20 Freyes; Universalia auf Particularia; Individualität auf Person. Und      
  21 es entspringen diese Erkenntniße, nach meiner Meynung aus der      
  22 unmittelbaren Anschauung, welche das vernünftige Wesen von sich      
  23 selbst, von seinem Zusammenhange mit dem Urwesen, und einer Abhängigen      
  24 Welt hat. Bey der Frage, ob diese Erkenntniße wirkliche      
  25 oder nur eingebildete Erkenntniße sind; ob ihnen Wahrheit, oder Unwißenheit      
  26 und Täuschung entspreche, wird die Verschiedenheit zwischen      
  27 Ihrer Theorie und meiner Ueberzeugung auffallend. Nach Ihrer Lehre      
  28 nimt die Natur; überhaupt das Vorgestellte, die Form unseres      
  29 einmahl innerlich und unerforschlich so und nicht anders bestimmten      
  30 Vorstellungsvermögens (dieses Wort in seiner weitesten Bedeutung      
  31 genommen) an: wodurch denn nicht allein aller Widerstreit der Vernunft      
  32 mit sich selbst gehoben, sondern auch ein durchaus zusammenhangendes      
  33 System reiner Philosophie möglich wird. Ich im Gegentheile      
  34 bin geneigter, die Form der menschlichen Vernunft in der      
  35 allgemeinen Form der Dinge zu suchen; und glaube einiger Maaßen      
  36 zu sehen, auch zum Theil schon gezeigt zu haben, wie die verschiedenen      
  37 Instanzen, welche der entgegengesetzten Behauptung alles Hypothetische      
           
     

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