Kant: AA X, Briefwechsel 1787 , Seite 475 |
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01 | Noth gemacht, und ich bin noch nicht davon befreit. Krankheiten | ||||||
02 | haben in unserer Familie beinahe nicht aufgehört. Im vergangenen | ||||||
03 | Winter war unser Haus fünf Monathe lang ein Krankenlager, mein | ||||||
04 | Vater, Mutter und Schwester wurden auf daßelbe niedergeworfen. | ||||||
05 | Diesen Winter ist mein lieber Vater wieder schon seit Anfang Novembers | ||||||
06 | an der Gicht im Kopfe krank, und noch keine Beßerung da. | ||||||
07 | Bei allen dergleichen traurigen Zufällen, habe ich mich mit Gewalt | ||||||
08 | aufarbeiten müßen, um die nöthige Stärke zu meinen Arbeiten zusammen | ||||||
09 | zu halten. In Absicht der Freuden, ist das menschliche Leben | ||||||
10 | nichts als Täuschung. | ||||||
11 | Leben Sie wohl, verehrungswürdiger Mann! gönnen Sie mir | ||||||
12 | Ihre fernere Freundschaft und Gewogenheit. Mit den innigsten Wünschen | ||||||
13 | des Herzens für einen Mann, an deßen Leben alle Edle theil | ||||||
14 | nehmen, und mit größter Verehrung und Hochachtung bin ich | ||||||
15 | Ew Wohlgeb. | ||||||
16 | Wernigerode | gehorsamster Diener | |||||
17 | den 16 Ian. 87. | Pleßing | |||||
18 | Zu Anfang des Oktobers im vorigen Iahr, kam der Iude Elkana, | ||||||
19 | der ehemals in Königsberg studirte, zu mir: Er war in den kläglichsten | ||||||
20 | Umständen, nichts Ganzes auf seinem Leibe und voller Ungeziefer. | ||||||
21 | Seiner Erzählung nach, kam er aus England, und war vorher in | ||||||
22 | Rusland und Dännemark gewesen: Verfolgungen der Iuden hätten | ||||||
23 | ihn aus Königsberg getrieben. Ich habe mich in seine Erzählungen | ||||||
24 | nicht finden können, am wenigsten in die, welche er mir über das | ||||||
25 | außerordentliche seiner Geburt - die Christlich seyn und von sehr | ||||||
26 | hohen Personen herrühren soll - abgestattet: dergleichen Dinge habe | ||||||
27 | ich nun freilig nicht glauben können. Er hat mir gesagt, daß Ew | ||||||
28 | Wohlgeb. die Ursachen seines Weggehens aus Königsberg und seine | ||||||
29 | Wanderschaft wüßten, wie auch HE Hoffprediger Schulz. Ich sahe | ||||||
30 | mich nicht im stande über diesen Mann zu urtheilen, und nahm blos | ||||||
31 | auf seine gegenwärtige Lage Rüksicht, in welcher er, blos als Mensch, | ||||||
32 | das höchste Mitleiden verdiente. Ich unterhielt ihn hier verschiedene | ||||||
33 | Tage im Wirthshause bei beßerer Pflege, brachte bei einigen Bekannten | ||||||
34 | 12 Thaler zusammen, und gab ihm einige Hemden, noch gut konditionirten | ||||||
35 | Rok, Beinkleider, Strümpfe, Hut, Schuhe, kurz, daß er sich | ||||||
36 | ganz anders kleiden und seine alten Lumpen wegwerfen konnte: noch | ||||||
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