Kant: AA X, Briefwechsel 1783 , Seite 345

     
           
 

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Text (Kant):

 

 

 

 
  01 stößt, dauert mich sehr, befremdet mich aber auch nicht; denn das Product      
  02 des Nachdenkens von einem Zeitraume von wenigstens zwölf      
  03 Iahren hatte ich innerhalb etwa 4 bis 5 Monathen, gleichsam im Fluge,      
  04 zwar mit der größten Aufmerksamkeit auf den Inhalt, aber mit weniger      
  05 Fleiß auf den Vortrag und Beförderung der leichten Einsicht vor den      
  06 Leser, zu Stande gebracht, eine Entschließung die mir auch jetzt noch      
  07 nicht leid thut, weil ohne dies und bey längerem Aufschube, um Popularität      
  08 hineinzubringen, das Werk vermuthlich ganz unterblieben wäre,      
  09 da doch dem letzteren Fehler nach und nach abgeholfen werden kan,      
  10 wenn nur das Product seiner rohen Bearbeitung nach erst da ist.      
  11 Denn ich bin schon zu alt, um ein weitläuftiges Werk mit ununterbrochner      
  12 Anstrengung Vollständigkeit und zugleich, mit der Feile in      
  13 der Hand, jedem Theile seine Rundung, Glätte und leichte Beweglichkeit      
  14 zu geben. Es fehlte mir zwar nicht an Mitteln der Erläuterung      
  15 jedes schwierigen Puncts, aber ich fühlete in der Ausarbeitung unaufhörlich      
  16 die, der Deutlichkeit eben so wohl wiederstreitende Last, der gedehnten      
  17 und den Zusammenhang unterbrechenden Weitläuftigkeit, daher      
  18 ich von dieser vor der Hand abstand, um sie bey einer künftigen Behandlung,      
  19 wenn meine Sätze, wie ich hoffete, in ihrer Ordnung nach und      
  20 nach würden angegriffen werden, nachzuholen; denn man kan auch nicht      
  21 immer, wenn man sich in ein System hineingedacht und mit den Begriffen      
  22 desselben vertraut gemacht hat, vor sich selbst errathen, was      
  23 dem Leser dunkel, was ihm nicht bestimmt, oder hinreichend bewiesen      
  24 vorkommen möchte. Es sind wenige so glücklich, vor sich und zugleich      
  25 in der Stelle anderer dencken und die ihnen allen angemessene Manier      
  26 im Vortrage treffen zu können. Es ist nur ein Mendelssohn.      
           
  27 Wie wäre es aber, mein werthester Herr, wenn Sie, gesetzt sie      
  28 wollten sich nicht weiter mit schon zur Seite gelegten Sachen selbst      
  29 beschäftigen, Ihr Ansehen und Ihren Einfluß dazu zu verwenden beliebeten,      
  30 eine nach einem gewissen Plane verabzuredende Prüfung jener      
  31 Sätze zu vermitteln und dazu auf eine Art wie sie Ihnen gut dünckt      
  32 aufzumuntern. Man würde also 1. untersuchen, ob es mit der Unterscheidung      
  33 der analytischen und synthetischen Urtheile seine Richtigkeit      
  34 und mit der Schwierigkeit, die Möglichkeit der letzteren, wenn sie      
  35 a priori geschehen sollen einzusehen, die Bewandnis habe, die ich ihr      
  36 beylege und ob es auch von so großer Nothwendigkeit sey, die Deduction      
  37 der letzteren Art von Erkentnisse zu Stande zu bringen, ohne welche      
           
     

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