Kant: AA X, Briefwechsel 1776 , Seite 192

     
           
 

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Text (Kant):

 

 

 

 
  01 gebracht zu sehen wünscht, damit der Trieb beschäftigt zu seyn ihm      
  02 nicht Unarten zuziehe, welche seine künftige Bildung nur schwerer      
  03 machen würden. Die Erziehung desselben ist bisher nur negativ gewesen,      
  04 die beste, welche man ihm, wie ich glaube, vor sein Alter nur      
  05 hat geben können. Man hat die Natur und den gesunden Verstand      
  06 seinen Iahren gemäß sich ohne Zwang entwickeln lassen, und nur alles      
  07 abgehalten, was ihnen und der Gemüthsart eine falsche Richtung geben      
  08 könte. Er ist frey erzogen, doch ohne beschwerlich zu fallen. Er hat      
  09 niemals die Härte erfahren und ist immer lenksam in Ansehung gelinder      
  10 Vorstellungen erhalten worden. Ob er gleich nicht zu Manieren      
  11 dressirt worden ist, so hat man doch die Ungezogenheit verhütet, ohne      
  12 ihn durch Verweise verschämt und blöde zu machen. Dieses war um      
  13 desto nothwendiger, damit eine anständige Freymüthigkeit sich in ihm      
  14 gründe und vornemlich, damit er nicht in die Nothwendigkeit versetzt      
  15 würde, zur Lüge seine Zuflucht zu nehmen. Um deswillen sind ihm      
  16 einige kindische Fehler auch lieber verziehen worden, als daß er in      
  17 Versuchung gebracht würde die Regel der Warhaftigkeit zu übertreten.      
  18 Übrigens hat er noch nichts gelernet, ausser lateinische Schrift kennen      
  19 und, wenn ihm die Buchstaben vorgesagt werden, dieselbe (aber nur      
  20 mit der Bleyfeder) zu schreiben. Er ist also die glatte Tafel, auf      
  21 die noch nichts gekritzelt ist, und die itzt einer Meisterhand überliefert      
  22 werden soll, um die unauslöschliche Züge der gesunden Vernunft, der      
  23 Wissenschaft und Rechtschaffenheit darein zu graben.      
           
  24 In Ansehung der Religion ist der Geist des Philanthropins      
  25 ganz eigentlich mit der Denkungsart des Vaters einstimmig, so sehr,      
  26 daß er wünscht: daß selbst die natürliche Erkentnis von Gott, so      
  27 viel er mit dem Anwachs seines Alters und Verstandes davon nach      
  28 und nach erlangen mag, eben nicht gerade zu auf Andachtshandlungen      
  29 gerichtet werden möge, als nur, nachdem er hat einsehen lernen: da      
  30 sie insgesammt nur den Werth der Mittel haben, zur Belebung einer      
  31 thätigen Gottesfurcht und Gewissenhaftigkeit in Befolgung seiner      
  32 Pflichten, als göttlicher Gebothe. Denn: daß die Religion nichts als      
  33 eine Art von Gunstbewerbung und Einschmeichelung bey dem höchsten      
  34 Wesen sey, in Ansehung deren die Menschen sich nur durch die Verschiedenheit      
  35 ihrer Meinungen, von der Art, die ihm die beliebteste seyn      
  36 möchte, unterscheiden ist ein Wahn, der, er mag auf Satzungen oder      
  37 frey von Satzungen gestimmet seyn, alle moralische Gesinnung unsicher      
           
     

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