Kant: AA X, Briefwechsel 1774 , Seite 162 |
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| 01 | ich vor ein paar Abenden gelesen, einer verschimmelten Urkunde vorziehn, | ||||||
| 02 | die das Ens Entium zum ersten offentlichen Lehrer des Menschl. Geschlecht | ||||||
| 03 | in der Encyclopaedie individualisirte. | ||||||
| 04 | So sehr mir auch noch immer an dem Thema und der Hauptfrage | ||||||
| 05 | ob der Autor im Grunde Recht oder Unrecht habe, gelegen | ||||||
| 06 | ist: so will ich mich doch gegenwärtig blos auf die zwey mir gegebene | ||||||
| 07 | Puncte, näml. des Sinns jener ältesten vermeintlichen Urkunde | ||||||
| 08 | und des vermeintl. Beweises davon aus der Uebereinstimmung | ||||||
| 09 | des gantzen uns bekannten Tradition=Systems | ||||||
| 10 | einschränken. | ||||||
| 11 | Mein Freund D. Lindner komt mit dem lieben Büchlein nicht | ||||||
| 12 | aus der Stelle, weil das darinn verborgene Opium, sagt er, seinem | ||||||
| 13 | Magen wiedersteht - anstatt es zuverschlucken wie jener alte Preuße | ||||||
| 14 | sein bloßes Meßer, oder es wie ein Wallfisch jenen alten Propheten | ||||||
| 15 | und unsere neuesten Rabbinen Cameele samt ihren Höckern v. Frachten | ||||||
| 16 | zu verschlingen. Da mein Gedächtnis stärker, als gewöhnlich scheint | ||||||
| 17 | ausgedünstet zu haben - - so muß ich mich gantz generalissime | ||||||
| 18 | erklären. | ||||||
| 19 | Das II. Hauptglied meiner kleinen Analyse wiederspricht gar nicht | ||||||
| 20 | der Meynung des Autors, sondern sucht vielmehr anstatt seinen Canon | ||||||
| 21 | aufzulösen, selbigen vollständiger zu machen, und ihn selbst dazu | ||||||
| 22 | anzuhalten. | ||||||
| 23 | Seinem eigenen Urtheil nach, und in meinen Augen übertrift | ||||||
| 24 | unsre älteste Urkunde an Einfalt und Evidentz jene vertrauliche Relation | ||||||
| 25 | des Cäsars: veni, vidi, vici , und freylich ist ein solcher Sieg keines | ||||||
| 26 | Triumphs werth gewesen. | ||||||
| 27 | Daher gieng mein Beyfall allein auf die Theorie und AuslegungsMethode, | ||||||
| 28 | worinn mir der Verf. vorzüglich scheint orthodox zu seyn. | ||||||
| 29 | Dieser Ruhm ist freylich an sich selbst leichter als die Luft, aber zugleich | ||||||
| 30 | von so unerkanntem und unermäslichem Gewicht, wie der elastische | ||||||
| 31 | Druck ihrer Säulen berechnet wird. | ||||||
| 32 | Denn Orthodoxie ist das einzige Verdienst eines Lehrers, der als | ||||||
| 33 | Lehrer gar nicht zur eignen Ausübung seiner Vorschriften verbunden | ||||||
| 34 | ist. Lehrt er Irrsaal und thut Wahrheit: so gewinnt er für sich selbst | ||||||
| 35 | als Thäter, sündigt aber an seinem Leser, Zuhörer und Schüler, der | ||||||
| 36 | erst lernen soll und weder richten kann noch darf, ja nicht einmal | ||||||
| 37 | will oder mag, wenn er bescheiden und moralisch denkt. Alle practische | ||||||
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