Kant: AA X, Briefwechsel 1774 , Seite 146

     
           
 

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Text (Kant):

 

 

 

 
  01 Zuhörer vom ersten Anfange bis zu Ende niemals eine trokene sondern      
  02 durch den Anlaß den sie haben unaufhörlich ihre gewöhnliche Erfahrung      
  03 mit meinen Bemerkungen zu vergleichen iederzeit eine unterhaltende      
  04 Beschäftigung habe. Ich arbeite in Zwischenzeiten daran,      
  05 aus dieser in meinen Augen sehr angenehmen Beobachtungslehre eine      
  06 Vorübung der Geschiklichkeit der Klugheit und selbst der Weisheit vor      
  07 die academische Iugend zu machen welche nebst der physischen geographie      
  08 von aller andern Unterweisung unterschieden ist und die Kentnis      
  09 der Welt heissen kan.      
           
  10 Mein Bildnis habe vor der Bibliothek gesehen. Eine Ehre die      
  11 mich ein wenig beunruhigt weil ich wie Sie wissen allen Schein erschlichener      
  12 Lobsprüche und Zudringlichkeit um Aufsehen zu machen sehr      
  13 meide. Es ist wohl gestochen obzwar nicht wohl getroffen. Indessen      
  14 erfahre ich mit Vergnügen daß solches die Veranstaltung der liebenswürdigen      
  15 Partheylichkeit meines ehemaligen Zuhörers ist. Die in      
  16 demselben Stücke vorkommende recension Ihrer Schrift beweiset doch      
  17 was ich besorgete: daß um neue Gedanken in ein solches Licht zu      
  18 stellen daß der Leser den eigenthümlichen Sinn des Verfassers und das      
  19 Gewicht der Gründe warnähme eine etwas längere Zeit nöthig ist um      
  20 sich in solche Materien bis zu einer völligen und leichten Bekantschaft      
  21 hineinzudenken. Ich bin mit aufrichtigster Zuneigung u. Achtung      
           
  22   Ihr      
  23   ergebenster Diener u. Freund      
  24   I. Kant      
           
           
    80.      
  26 Von C. F. R.      
           
  27 Tübingen d. 1. Febr. 1774.      
           
  28 Wohlgebohrner, Hochgelehrter,      
  29 Hochzuverehrender Herr Professor.      
           
  30 Erlauben Sie mir daß ich Ihnen vor das große Vergnügen      
  31 danke, das ich vornemlich aus Ihren Beobachtungen des Schönen und      
  32 Erhabenen geschöpft habe. Ich machte die Aesthetik schon lange Zeit      
  33 zu meiner Hauptbeschäftigung, und laß in dieser Absicht nicht nur      
  34 den Longin, sondern besonders auch die vortreflichen Aufsäze eines      
  35 Mendelsons, Home's, Meiners und anderer: aber keiner befriedigte      
  36 mich sosehr als Sie. So oft ich diese oder andere Aesthetiker miteinander      
           
     

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