Kant: AA X, Briefwechsel 1768 , Seite 078

     
           
 

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Text (Kant):

 

 

 

 
  01 Wie manches hätte ich Ihnen zu sagen, wenn ich wüste, daß Sie      
  02 Geduld haben würden, mir zu antworten. Zweifel wider manche      
  03 Ihrer Philosophischen Hypothesen u. Beweise, insonderheit da wo Sie      
  04 mit der Wißenschaft des Menschlichen gränzen sind mehr als      
  05 Spekulationen: u. da ich aus keiner andern Ursache mein geistliches      
  06 Amt angenommen, als weil ich wuste, u. es täglich ans der Erfahrung      
  07 mehr lerne, daß sich nach unsrer Lage der bürgerl. Verfassung      
  08 von hieraus am besten Cultur u. Menschenverstand unter den      
  09 ehrwürdigen Theil der Menschen bringen laße, den wir Volk nennen:      
  10 so ist diese Menschliche Philosophie auch meine liebste Beschäftigung.      
  11 Ich müste ungerecht seyn, wenn ich mich darüber beklagte, daß ich      
  12 diesen Zweck nicht erreichte, wenigstens machen auch hierinn die guten      
  13 Anläße, die ich sehe, die Liebe, die ich bei vielen Guten u. Edeln      
  14 genieße, das freudige u. willige Zudringen des bildsamsten Theils      
  15 des Publikum, der Iünglinge u. Dames - - alles dieses macht      
  16 mir zwar keine Schmeichelei, aber desto mehr ruhige Hoffnung, nicht      
  17 ohne Zweck in der Welt zu seyn. -      
           
  18 Da aber die Liebe von uns selbst anfängt, so kann ich den      
  19 Wunsch nicht bergen, die erste beste Gelegenheit zu haben, meinen      
  20 Ort zu verlaßen u. die Welt zu sehen. Es ist Zweck meines Hierseyns,      
  21 mehr Menschen kennen zu lernen, u. manche Dinge anders zu      
  22 betrachten, als Diogenes sie aus seinem Faße sehen konnte. Sollte      
  23 sich also ein Zug nach Deutschland vorfinden, ich binde mich selbst      
  24 kaum an meinen Stand: so weiß ich nicht, warum ich nicht dem      
  25 Zuge folgen sollte, u. nehme es mir selbst übel, den Ruf nach Petersburg      
  26 ausgeschlagen zu haben, welche Stelle, wie es der Anschein gibt,      
  27 sehr leidig besetzt ist. Ietzt suche ich, wie eine rückgehaltne Kraft,      
  28 nur wenigstens eine lebendige Kraft zu bleiben, ob ich gleich nicht      
  29 sehe, wie der Rückhalt meine innere Tendenz vermehren sollte. -      
  30 Doch wer weiß das? u. wo komme ich hin? - Lieben Sie mich, mein      
  31 liebster, hochgeachteter Kant, und nehmen Sie die Unterschrift meines      
  32 Herzens an      
           
  33   Ihr      
  34   Herder.      
           
  35 P. S. Freilich darf ich um Ihre Briefe nur sehr unzuverläßig bitten,      
  36 da ich Ihre Ungemächlichkeit zu schreiben kenne; aber würden Sie meine      
           
     

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