Kant: AA IX, Immanuel Kant über ... , Seite 480 |
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01 | Gesetzt es wäre, was man doch nur äußerst selten annehmen kann, | ||||||
02 | bei dem Kinde natürliche Anlage zum Eigensinne vorhanden: so ist es am | ||||||
03 | besten, in der Art zu verfahren, daß, wenn es uns nichts zu Gefallen thut, | ||||||
04 | wir auch ihm wieder nichts zu Gefallen thun. - Brechung des Willens | ||||||
05 | bringt eine sklavische Denkungsart, natürlicher Widerstand dagegen Lenksamkeit | ||||||
06 | zuwege. | ||||||
07 | Die moralische Cultur muß sich gründen auf Maximen, nicht auf | ||||||
08 | Disciplin. Diese verhindert die Unarten, jene bildet die Denkungsart. | ||||||
09 | Man muß dahin sehen, daß das Kind sich gewöhne, nach Maximen und | ||||||
10 | nicht nach gewissen Triebfedern zu handeln. Durch Disciplin bleibt nur | ||||||
11 | eine Angewohnheit übrig, die doch auch mit den Jahren verlöscht. Nach | ||||||
12 | Maximen soll das Kind handeln lernen, deren Billigkeit es selbst einsieht. | ||||||
13 | Daß dies bei jungen Kindern schwer zu bewirken, und die moralische | ||||||
14 | Bildung daher auch die meisten Einsichten von Seiten der Eltern und der | ||||||
15 | Lehrer erfordere, sieht man leicht ein.*) | ||||||
16 | Wenn das Kind z. E. lügt, muß man es nicht bestrafen, sondern ihm | ||||||
17 | mit Verachtung begegnen, ihm sagen, daß man ihm in Zukunft nicht | ||||||
18 | glauben werde, und dergl. Bestraft man das Kind aber, wenn es Böses | ||||||
19 | thut, und belohnt es, wenn es Gutes thut, so thut es Gutes, um es gut | ||||||
20 | zu haben. Kommt es nachher in die Welt, wo es nicht so zugeht, wo es | ||||||
21 | Gutes thun kann, ohne eine Belohnung, und Böses, ohne Strafe zu | ||||||
22 | empfangen: so wird aus ihm ein Mensch, der nur sieht, wie er gut in der | ||||||
*) Schon vorhin habe ich angedeutet, daß diese Maximen nicht Maximen der Ehre sein können, sondern die des Rechtes sein müssen, indem jene sehr wohl, aber nicht diese mit Charakterlosigkeit bestehen können. Dazu kommt, daß Ehre etwas ganz Conventionelles ist, was erst gewissermaßen erlernt werden muß, und wozu es der Erfahrung bedarf. Auf diesem Wege läßt sich daher erst spät an die Bildung des Charakters denken, oder vielmehr, sie wird erst spät möglich. Dagegen liegt die Vorstellung von Recht tief in der Seele jedes, auch des zartesten Kindes, und man thäte daher sehr wohl, statt dem Kinde zuzurufen: Ei, so schäme dich doch! es immer auf die Frage zurück zu führen: Ist das auch recht? A. d. H. | |||||||
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