Kant: AA IX, Immanuel Kant über ... , Seite 455 |
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01 | Abhandlung. |
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02 | Die Pädagogik oder Erziehungslehre ist entweder physisch oder | ||||||
03 | praktisch. Die physische Erziehung ist diejenige, die der Mensch mit | ||||||
04 | den Thieren gemein hat, oder die Verpflegung. Die praktische oder | ||||||
05 | moralische ist diejenige, durch die der Mensch soll gebildet werden, damit | ||||||
06 | er wie ein freihandelndes Wesen leben könne. (Praktisch nennt man | ||||||
07 | alles dasjenige, was Beziehung auf Freiheit hat.) Sie ist Erziehung zur | ||||||
08 | Persönlichkeit, Erziehung eines frei handelnden Wesens, das sich selbst | ||||||
09 | erhalten und in der Gesellschaft ein Glied ausmachen, für sich selbst aber | ||||||
10 | einen innern Werth haben kann. | ||||||
11 | Sie besteht demnach 1) aus der scholastisch=mechanischen Bildung | ||||||
12 | in Ansehung der Geschicklichkeit, ist also didaktisch (Informator), 2) aus | ||||||
13 | der pragmatischen in Ansehung der Klugheit (Hofmeister), 3) aus der | ||||||
14 | moralischen in Ansehung der Sittlichkeit. | ||||||
15 | Der scholastischen Bildung oder der Unterweisung bedarf der | ||||||
16 | Mensch, um zur Erreichung aller seiner Zwecke geschickt zu werden. Sie | ||||||
17 | giebt ihm einen Werth in Ansehung seiner selbst als Individuum. Durch | ||||||
18 | die Bildung zur Klugheit aber wird er zum Bürger gebildet, da bekommt | ||||||
19 | er einen öffentlichen Werth. Da lernt er sowohl die bürgerliche | ||||||
20 | Gesellschaft zu seiner Absicht lenken, als sich auch in die bürgerliche Gesellschaft | ||||||
21 | schicken. Durch die moralische Bildung endlich bekommt er | ||||||
22 | einen Werth in Ansehung des ganzen menschlichen Geschlechts. | ||||||
23 | Die scholastische Bildung ist die früheste und erste. Denn alle Klugheit | ||||||
24 | setzt Geschicklichkeit voraus. Klugheit ist das Vermögen, seine Geschicklichkeit | ||||||
25 | gut an den Mann zu bringen. Die moralische Bildung, in | ||||||
26 | so fern sie auf Grundsätzen beruht, die der Mensch selbst einsehen soll, ist | ||||||
27 | die späteste; in so fern sie aber nur auf dem gemeinen Menschenverstande | ||||||
28 | beruht, muß sie gleich von Anfang, auch gleich bei der physischen Erziehung | ||||||
29 | beobachtet werden, denn sonst wurzeln sich leicht Fehler ein, bei denen nachher | ||||||
30 | alle Erziehungskunst vergebens arbeitet. In Ansehung der Geschicklichkeit | ||||||
31 | und Klugheit muß alles nach den Jahren gehen. Kindisch geschickt, | ||||||
32 | kindisch klug und gutartig, nicht listig auf männliche Art, das taugt eben | ||||||
33 | so wenig, als eine kindische Sinnesart des Erwachsenen. | ||||||
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