Kant: AA IX, Immanuel Kant über ... , Seite 443 |
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Text (Kant):
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01 | Freiheit eine Abschleifung seiner Rohigkeit nöthig; bei dem Thiere hingegen | ||||||
02 | wegen seines Instinctes nicht. | ||||||
03 | Der Mensch braucht Wartung und Bildung. Bildung begreift unter | ||||||
04 | sich Zucht und Unterweisung. Diese braucht, soviel man weiß, kein Thier. | ||||||
05 | Denn keins derselben lernt etwas von den Alten, außer die Vögel ihren | ||||||
06 | Gesang. Hierin werden sie von den Alten unterrichtet, und es ist rührend | ||||||
07 | anzusehen, wenn wie in einer Schule die Alte ihren Jungen aus allen | ||||||
08 | Kräften vorsingt, und diese sich bemühen, aus ihren kleinen Kehlen dieselben | ||||||
09 | Töne herauszubringen. Um sich zu überzeugen, daß die Vögel nicht | ||||||
10 | aus Instinct singen, sondern es wirklich lernen, lohnt es der Mühe, die | ||||||
11 | Probe zu machen und etwa die Hälfte von ihren Eiern den Canarienvögeln | ||||||
12 | wegzunehmen und ihnen Sperlingseier unterzulegen, oder auch wohl die | ||||||
13 | ganz jungen Sperlinge mit ihren Jungen zu vertauschen. Bringt man | ||||||
14 | diese nun in eine Stube, wo sie die Sperlinge nicht draußen hören können: | ||||||
15 | so lernen sie den Gesang der Canarienvögel, und man bekommt singende | ||||||
16 | Sperlinge. Es ist auch in der That sehr zu bewundern, daß jede Vogelgattung | ||||||
17 | durch alle Generationen einen gewissen Hauptgesang behält, und | ||||||
18 | die Tradition des Gesanges ist wohl die treueste in der Welt.*) | ||||||
19 | Der Mensch kann nur Mensch werden durch Erziehung. Er ist nichts, | ||||||
20 | als was die Erziehung aus ihm macht. Es ist zu bemerken, daß der | ||||||
21 | Mensch nur durch Menschen erzogen wird, durch Menschen, die ebenfalls | ||||||
22 | erzogen sind. Daher macht auch Mangel an Disciplin und Unterweisung | ||||||
23 | bei einigen Menschen sie wieder zu schlechten Erziehern ihrer Zöglinge. | ||||||
24 | Wenn einmal ein Wesen höherer Art sich unserer Erziehung annähme, so | ||||||
25 | würde man doch sehen, was aus dem Menschen werden könne. Da die | ||||||
26 | Erziehung aber theils den Menschen einiges lehrt, theils einiges auch nur | ||||||
27 | bei ihm entwickelt: so kann man nicht wissen, wie weit bei ihm die Naturanlagen | ||||||
*) Was Kant hier von den Sperlingen sagt, könnte gewissermaßen noch weiter ausgedehnt werden, auch auf andere Thiere. So will man bemerkt haben, daß z. B. Löwen, die sehr jung eingefangen werden, nie ganz in der Art wie ältere und später ihrer Freiheit beraubte Löwen brüllen. Dabei müßte denn aber noch erst ausgemittelt werden, wieviel davon auf Rechnung der veränderten Lebensart kommt, die nicht ohne Wirkung auf eine noch unvollendete Organisation, auf ein noch nicht völlig ausgebildetes Thier bleiben kann. Das hier von den Sperlingen Gesagte gilt auch nur mit Einschränkung. Nie wird man seinen Gesang für den eines wirklichen Canarienvogels zu nehmen im Stande sein. Naturam furca expellas, et tamen usque recurrit. Selbst bei den Blendlingen einer Vögelrace treten merkliche Verschiedenheiten ein S. Girtanner S. 341. d. H. | |||||||
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