Kant: AA IX, Immanuel Kant's Logik Ein ... , Seite 075 |
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01 | zurücknehmen zu müssen. Dieser Widerruf ist immer eine Kränkung | ||||||
02 | und eine Ursache, auf alle andren Kenntnisse ein Mißtrauen zu setzen. | ||||||
03 | Noch bemerken wir hier: daß es etwas anders ist, sein Urtheil in | ||||||
04 | dubio , als es in suspenso zu lassen. Bei diesem habe ich immer ein | ||||||
05 | Interesse für die Sache, bei jenem ist es nicht immer meinem Zwecke und | ||||||
06 | Interesse gemäß zu entscheiden, ob die Sache wahr sei oder nicht. | ||||||
07 | Die vorläufigen Urtheile sind sehr nöthig, ja unentbehrlich für den | ||||||
08 | Gebrauch des Verstandes bei allem Meditiren und Untersuchen. Denn | ||||||
09 | sie dienen dazu, den Verstand bei seinen Nachforschungen zu leiten und | ||||||
10 | ihm hierzu verschiedene Mittel an die Hand zu geben. | ||||||
11 | Wenn wir über einen Gegenstand meditiren, müssen wir immer schon | ||||||
12 | vorläufig urtheilen und das Erkenntniß gleichsam schon wittern, das uns | ||||||
13 | durch die Meditation zu Theil werden wird. Und wenn man auf Erfindungen | ||||||
14 | oder Entdeckungen ausgeht, muß man sich immer einen vorläufigen | ||||||
15 | Plan machen, sonst gehen die Gedanken bloß aufs Ohngefähr. Man | ||||||
16 | kann sich daher unter vorläufigen Urtheilen Maximen denken zur Untersuchung | ||||||
17 | einer Sache. Auch Anticipationen könnte man sie nennen, | ||||||
18 | weil man sein Urtheil von einer Sache schon anticipirt, noch ehe man das | ||||||
19 | bestimmende hat. Dergleichen Urtheile haben also ihren guten Nutzen | ||||||
20 | und es ließen sich sogar Regeln darüber geben, wie wir vorläufig über | ||||||
21 | ein Object urtheilen sollen. | ||||||
22 | Von den vorläufigen Urtheilen müssen die Vorurtheile unterschieden | ||||||
23 | werden. | ||||||
24 | Vorurtheile sind vorläufige Urtheile, in so fern sie als Grundsätze | ||||||
25 | angenommen werden. Ein jedes Vorurtheil ist als ein Princip | ||||||
26 | irriger Urtheile anzusehen und aus Vorurtheilen entspringen nicht Vorurtheile, | ||||||
27 | sondern irrige Urtheile. Man muß daher die falsche Erkenntniß, | ||||||
28 | die aus dem Vorurtheil entspringt, von ihrer Quelle, dem Vorurtheil | ||||||
29 | selbst, unterscheiden. So ist z. B. die Bedeutung der Träume an sich | ||||||
30 | selbst kein Vorurtheil, sondern ein Irrthum, der aus der angenommenen | ||||||
31 | allgemeinen Regel entspringt: Was einigemal eintrifft, trifft immer ein | ||||||
32 | oder ist immer für wahr zu halten. Und dieser Grundsatz, unter welchen | ||||||
33 | die Bedeutung der Träume mit gehört, ist ein Vorurtheil. | ||||||
34 | Zuweilen sind die Vorurtheile wahre vorläufige Urtheile, nur da | ||||||
35 | sie uns als Grundsätze oder als bestimmende Urtheile gelten, ist unrecht. | ||||||
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