Kant: AA VIII, Nachschrift zu Christian ... , Seite 445

     
           
 

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Text (Kant):

 

 

 

 
  01
Nachschrift eines Freundes.
     
           
  02 Daß der preußische Littauer es sehr verdiene, in der Eigenthümlichkeit      
  03 seines Charakters und, da die Sprache ein vorzügliches Leitmittel zur      
  04 Bildung und Erhaltung desselben ist, auch in der Reinigkeit der letzteren      
  05 sowohl im Schul= als Kanzelunterricht erhalten zu werden, ist aus obiger      
  06 Beschreibung desselben zu ersehen. Ich füge zu diesem noch hinzu: daß er,      
  07 von Kriecherei weiter als die ihm benachbarte Völker entfernt, gewohnt      
  08 ist mit seinen Obern im Tone der Gleichheit und vertraulichen Offenherzigkeit      
  09 zu sprechen; welches diese auch nicht übel nehmen oder das      
  10 Händedrücken spröde verweigern, weil sie ihn dabei zu allem Billigen      
  11 willig finden. Ein von allem Hochmuth einer gewissen benachbarten      
  12 Nation, wenn jemand unter ihnen vornehmer ist, ganz unterschiedener      
  13 Stolz, oder vielmehr Gefühl seines Werths, welches Muth andeutet und      
  14 zugleich für seine Treue die Gewähr leistet.      
           
  15 Aber auch abgesehen von dem Nutzen, den der Staat aus dem Beistande      
  16 eines Volks von solchem Charakter ziehen kann: so ist auch der      
  17 Vortheil, den die Wissenschaften, vornehmlich die alte Geschichte der      
  18 Völkerwanderungen, aus der noch unvermengten Sprache eines uralten, jetzt      
  19 in einem engen Bezirk eingeschränkten und gleichsam isolirten Völkerstammes      
  20 ziehen können, nicht für gering zu halten und darum, ihre      
  21 Eigenthümlichkeit aufzubewahren, an sich schon von großem Werth.      
  22 Büsching beklagte daher sehr den frühen Tod des gelehrten Professors      
  23 Thunmann in Halle, der auf diese Nachforschungen mit etwas zu großer      
  24 Anstrengung seine Kräfte verwandt hatte. - Überhaupt, wenn auch nicht      
  25 an jeder Sprache eine eben so große Ausbeute zu erwarten wäre, so ist es      
  26 doch zur Bildung eines jeden Völkleins in einem Lande, z. B. im preußischen      
  27 Polen, von Wichtigkeit, es im Schul= und Kanzelunterricht nach      
  28 dem Muster der reinsten (polnischen) Sprache, sollte diese auch nur      
  29 außerhalb Landes geredet werden, zu unterweisen und diese nach und      
  30 nach gangbar zu machen: weil dadurch die Sprache der Eigenthümlichkeit      
  31 des Volks angemessener und hiemit der Begriff desselben aufgeklärter wird.      
  32 I. Kant.      
           
           
     

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