Kant: AA VIII, Über ein vermeintes Recht ... , Seite 427 |
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01 | Zufall der Straffälligkeit entgeht, kann auch nach äußeren Gesetzen als | ||||||
02 | Unrecht abgeurtheilt werden. Hast du nämlich einen eben jetzt mit Mordsucht | ||||||
03 | umgehenden durch eine Lüge an der That verhindert, so bist du | ||||||
04 | für alle Folgen, die daraus entspringen möchten, auf rechtliche Art verantwortlich. | ||||||
05 | Bist du aber Strenge bei der Wahrheit geblieben, so kann dir | ||||||
06 | die öffentliche Gerechtigkeit nichts anhaben; die unvorhergesehene Folge | ||||||
07 | mag sein, welche sie wolle. Es ist doch möglich, daß, nachdem du dem | ||||||
08 | Mörder auf die Frage, ob der von ihm Angefeindete zu Hause sei, ehrlicherweise | ||||||
09 | mit ja geantwortet hast, dieser doch unbemerkt ausgegangen | ||||||
10 | ist und so dem Mörder nicht in den Wurf gekommen, die That also nicht | ||||||
11 | geschehen wäre; hast du aber gelogen und gesagt, er sei nicht zu Hause, | ||||||
12 | und er ist auch wirklich (obzwar dir unbewußt) ausgegangen, wo denn der | ||||||
13 | Mörder ihm im Weggehen begegnete und seine That an ihm verübte: so | ||||||
14 | kannst du mit Recht als Urheber des Todes desselben angeklagt werden. | ||||||
15 | Denn hättest du die Wahrheit, so gut du sie wußtest, gesagt: so wäre | ||||||
16 | vielleicht der Mörder über dem Nachsuchen seines Feindes im Hause von | ||||||
17 | herbeigelaufenen Nachbarn ergriffen und die That verhindert worden. | ||||||
18 | Wer also lügt, so gutmüthig er dabei auch gesinnt sein mag, muß die | ||||||
19 | Folgen davon, selbst vor dem bürgerlichen Gerichtshofe, verantworten und | ||||||
20 | dafür büßen, so unvorhergesehen sie auch immer sein mögen: weil Wahrhaftigkeit | ||||||
21 | eine Pflicht ist, die als die Basis aller auf Vertrag zu gründenden | ||||||
22 | Pflichten angesehen werden muß, deren Gesetz, wenn man ihr auch nur | ||||||
23 | die geringste Ausnahme einräumt, schwankend und unnütz gemacht wird. | ||||||
24 | Es ist also ein heiliges, unbedingt gebietendes, durch keine Convenienzen | ||||||
25 | einzuschränkendes Vernunftgebot: in allen Erklärungen wahrhaft | ||||||
26 | (ehrlich) zu sein. | ||||||
27 | Wohldenkend und zugleich richtig ist hiebei Hrn. Constants Anmerkung | ||||||
28 | über die Verschreiung solcher strenger und sich vorgeblich in unausführbare | ||||||
29 | Ideen verlierender, hiemit aber verwerflicher Grundsätze. | ||||||
30 | "Jedesmal (sagt er S. 123 unten) wenn ein als wahr bewiesener Grundsatz | ||||||
31 | unanwendbar scheint, so kommt es daher, daß wir den mittlern | ||||||
32 | Grundsatz nicht kennen, der das Mittel der Anwendung enthält." Er führt | ||||||
33 | (S. 121) die Lehre von der Gleichheit als den ersten die gesellschaftliche | ||||||
34 | Kette bildenden Ring an: "Daß (S. 122) nämlich kein Mensch anders | ||||||
35 | als durch solche Gesetze gebunden werden kann, zu deren Bildung er mit | ||||||
36 | beigetragen hat. In einer sehr ins Enge zusammengezogenen Gesellschaft | ||||||
37 | kann dieser Grundsatz auf unmittelbare Weise angewendet werden und | ||||||
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