Kant: AA VIII, Von einem neuerdings erhobenen ... , Seite 390

     
           
 

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Text (Kant):

 

 

 

 
  01 Es liegt nämlich nicht bloß in der natürlichen Trägheit, sondern      
  02 auch in der Eitelkeit der Menschen (einer mißverstandenen Freiheit), da      
  03 die, welche zu leben haben, es sei reichlich oder kärglich, in Vergleichung      
  04 mit denen, welche arbeiten müssen, um zu leben, sich für Vornehme      
  05 halten. - Der Araber oder Mongole verachtet den Städter und      
  06 dünkt sich vornehm in Vergleichung mit ihm: weil das Herumziehen in den      
  07 Wüsten mit seinen Pferden und Schafen mehr Belustigung als Arbeit ist.      
  08 Der Waldtunguse meint seinem Bruder einen Fluch an den Hals zu      
  09 werfen, wenn er sagt: "Daß du dein Vieh selber erziehen magst wie der      
  10 Buräte!" Dieser giebt die Verwünschung weiter ab und sagt: "Da      
  11 du den Acker bauen magst wie der Russe!" Der Letztere wird vielleicht      
  12 nach seiner Denkungsart sagen: "Daß du am Weberstuhl sitzen magst, wie      
  13 der Deutsche!" - Mit einem Wort: Alle dünken sich vornehm nach dem      
  14 Maße, als sie glauben, nicht arbeiten zu dürfen; und nach diesem Grundsatz      
  15 ist es neuerdings so weit gekommen, daß sich eine vorgebliche Philosophie,      
  16 bei der man nicht arbeiten, sondern nur das Orakel in sich selbst      
  17 anhören und genießen darf, um die ganze Weisheit, auf die es mit der      
  18 Philosophie angesehen ist, von Grunde aus in seinen Besitz zu bringen,      
  19 unverhohlen und öffentlich ankündigt: und dies zwar in einem Tone, der      
  20 anzeigt, daß sie sich mit denen, welche - schulmäßig - von der Kritik      
  21 ihres Erkenntnißvermögens zum dogmatischen Erkenntniß langsam und      
  22 bedächtig fortzuschreiten sich verbunden halten, in Eine Linie zu stellen      
  23 gar nicht gemeint sind, sondern - geniemäßig - durch einen einzigen      
  24 Scharfblick auf ihr Inneres alles das, was Fleiß nur immer verschaffen      
  25 mag, und wohl noch mehr zu leisten im Stande sind. Mit Wissenschaften,      
  26 welche Arbeit erfordern, als Mathematik, Naturwissenschaft, alte Geschichte,      
  27 Sprachkunde etc., selbst mit der Philosophie, sofern sie sich auf methodische      
  28 Entwicklung und systematische Zusammenstellung der Begriffe einzulassen      
  29 genöthigt ist, kann mancher wohl auf pedantische Art stolz thun;      
  30 aber keinem andern, als dem Philosophen der Anschauung, der nicht      
  31 durch die herculische Arbeit des Selbsterkenntnisses sich von unten hinauf,      
  32 sondern, sie überfliegend, durch eine ihm nichts kostende Apotheose von oben      
  33 herab demonstrirt, kann es einfallen vornehm zu thun: weil er da aus      
  34 eigenem Ansehen spricht und Keinem deshalb Rede zu stehen verbunden ist.      
  35 Und nun zur Sache selbst!      
           
           
     

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