Kant: AA VIII, Das Ende aller ... , Seite 335 |
|||||||
Zeile:
|
Text (Kant):
|
|
|
||||
01 | Hölle) entweder immer dasselbe Lied, ihr Hallelujah, oder ewig eben dieselben | ||||||
02 | Jammertöne anstimmen (I, 15): wodurch der gänzliche | ||||||
03 | Mangel alles Wechsels in ihrem Zustande angezeigt werden soll. | ||||||
04 | Gleichwohl ist diese Idee, so sehr sie auch unsre Fassungskraft übersteigt, | ||||||
05 | doch mit der Vernunft in praktischer Beziehung nahe verwandt. | ||||||
06 | Wenn wir den moralisch=physischen Zustand des Menschen hier im Leben | ||||||
07 | auch auf dem besten Fuß annehmen, nämlich eines beständigen Fortschreitens | ||||||
08 | und Annäherns zum höchsten (ihm zum Ziel ausgesteckten) Gut: | ||||||
09 | so kann er doch (selbst im Bewußtsein der Unveränderlichkeit seiner Gesinnung) | ||||||
10 | mit der Aussicht in eine ewig dauernde Veränderung seines Zustandes | ||||||
11 | (des sittlichen sowohl als physischen) die Zufriedenheit nicht | ||||||
12 | verbinden. Denn der Zustand, in welchem er jetzt ist, bleibt immer doch | ||||||
13 | ein Übel vergleichungsweise gegen den bessern, in den zu treten er in Bereitschaft | ||||||
14 | steht; und die Vorstellung eines unendlichen Fortschreitens | ||||||
15 | zum Endzweck ist doch zugleich ein Prospect in eine unendliche Reihe von | ||||||
16 | Übeln, die, ob sie zwar von dem größern Guten überwogen werden, doch | ||||||
17 | die Zufriedenheit nicht Statt finden lassen, die er sich nur dadurch, daß der | ||||||
18 | Endzweck endlich einmal erreicht wird, denken kann. | ||||||
19 | Darüber geräth nun der nachgrübelnde Mensch in die Mystik (denn | ||||||
20 | die Vernunft, weil sie sich nicht leicht mit ihrem immanenten, d. i. praktischen, | ||||||
21 | Gebrauch begnügt, sondern gern im Transscendenten etwas wagt, | ||||||
22 | hat auch ihre Geheimnisse), wo seine Vernunft sich selbst, und was sie will, | ||||||
23 | nicht versteht, sondern lieber schwärmt, als sich, wie es einem intellectuellen | ||||||
24 | Bewohner einer Sinnenwelt geziemt, innerhalb den Gränzen dieser eingeschränkt | ||||||
25 | zu halten. Daher kommt das Ungeheuer von System des Laokiun | ||||||
26 | von dem höchsten Gut, das im Nichts bestehen soll: d. i. im Bewußtsein, | ||||||
27 | sich in den Abgrund der Gottheit durch das Zusammenfließen | ||||||
28 | mit derselben und also durch Vernichtung seiner Persönlichkeit verschlungen | ||||||
29 | zu fühlen; von welchem Zustande die Vorempfindung zu haben, sinesische | ||||||
30 | Philosophen sich in dunkeln Zimmern mit geschlossenen Augen anstrengen, | ||||||
31 | dieses ihr Nichts zu denken und zu empfinden. Daher der Pantheism | ||||||
32 | (der Tibetaner und andrer östlichen Völker) und der aus der metaphysischen | ||||||
33 | Sublimirung desselben in der Folge erzeugte Spinozism: welche | ||||||
34 | beide mit dem uralten Emanationssystem aller Menschenseelen aus der | ||||||
35 | Gottheit (und ihrer endlichen Resorption in eben dieselbe) nahe verschwistert | ||||||
36 | sind. Alles lediglich darum, damit die Menschen sich endlich doch einer | ||||||
37 | ewigen Ruhe zu erfreuen haben möchten, welche denn ihr vermeintes | ||||||
[ Seite 334 ] [ Seite 336 ] [ Inhaltsverzeichnis ] |