Kant: AA VIII, Über den Gemeinspruch Das ... , Seite 308 |
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01 | nimmt auf diese Art gleich dem Indier die Erde als den Büßungsort für | ||||||
02 | alte, jetzt nicht mehr erinnerliche Sünden an.) - "Der Mensch geht weiter; | ||||||
03 | aber die Menschheit schwankt beständig zwischen festgesetzten Schranken | ||||||
04 | auf und nieder; behält aber, im Ganzen betrachtet, in allen Perioden | ||||||
05 | der Zeit ungefähr dieselbe Stufe der Sittlichkeit, dasselbe Maß von Religion | ||||||
06 | und Irreligion, von Tugend und Laster, von Glückseligkeit (?) und | ||||||
07 | Elend." - Diese Behauptungen leitet er (S. 46) dadurch ein, daß er | ||||||
08 | sagt: "Ihr wollt errathen, was für Absichten die Vorsehung mit der | ||||||
09 | Menschheit habe? Schmiedet keine Hypothesen" (Theorie hatte er diese | ||||||
10 | vorher genannt); "schauet nur umher auf das, was wirklich geschieht, und, | ||||||
11 | wenn Ihr einen Überblick auf die Geschichte aller Zeiten werfen könnt, | ||||||
12 | auf das, was von jeher geschehen ist. Dieses ist Thatsache; dieses muß | ||||||
13 | zur Absicht gehört haben, muß in dem Plane der Weisheit genehmigt, | ||||||
14 | oder wenigstens mit aufgenommen worden sein." | ||||||
15 | Ich bin anderer Meinung. - Wenn es ein einer Gottheit würdiger | ||||||
16 | Anblick ist, einen tugendhaften Mann mit Widerwärtigkeiten und Versuchungen | ||||||
17 | zum Bösen ringen und ihn dennoch dagegen Stand halten zu | ||||||
18 | sehen: so ist es ein, ich will nicht sagen einer Gottheit, sondern selbst des | ||||||
19 | gemeinsten, aber wohldenkenden Menschen höchst unwürdiger Anblick, das | ||||||
20 | menschliche Geschlecht von Periode zu Periode zur Tugend hinauf Schritte | ||||||
21 | thun und bald darauf eben so tief wieder in Laster und Elend zurückfallen zu | ||||||
22 | sehen. Eine Weile diesem Trauerspiel zuzuschauen, kann vielleicht rührend | ||||||
23 | und belehrend sein; aber endlich muß doch der Vorhang fallen. Denn auf | ||||||
24 | die Länge wird es zum Possenspiel; und wenn die Akteure es gleich nicht | ||||||
25 | müde werden, weil sie Narren sind, so wird es doch der Zuschauer, der an | ||||||
26 | einem oder dem andern Act genug hat, wenn er daraus mit Grunde abnehmen | ||||||
27 | kann, daß das nie zu Ende kommende Stück ein ewiges Einerlei | ||||||
28 | sei. Die am Ende folgende Strafe kann zwar, wenn es ein bloßes Schauspiel | ||||||
29 | ist, die unangenehmen Empfindungen durch den Ausgang wiederum | ||||||
30 | gut machen. Aber Laster ohne Zahl (wenn gleich mit dazwischen eintretenden | ||||||
31 | Tugenden) in der Wirklichkeit sich über einander thürmen zu lassen, | ||||||
32 | damit dereinst recht viel gestraft werden könne: ist wenigstens nach unseren | ||||||
33 | Begriffen sogar der Moralität eines weisen Welturhebers und Regierers | ||||||
34 | zuwider. | ||||||
35 | Ich werde also annehmen dürfen: daß, da das menschliche Geschlecht | ||||||
36 | beständig im Fortrücken in Ansehung der Cultur, als dem Naturzwecke | ||||||
37 | desselben, ist, es auch im Fortschreiten zum Besseren in Ansehung des | ||||||
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