Kant: AA VIII, Über den Gemeinspruch Das ... , Seite 288 |
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01 | fühlen läßt. Und wenn der Mensch öfters darauf aufmerksam gemacht | ||||||
02 | und gewöhnt würde, die Tugend von allem Reichthum ihrer aus der Beobachtung | ||||||
03 | der Pflicht zu machenden Beute von Vortheilen gänzlich zu | ||||||
04 | entladen und sie in ihrer ganzen Reinigkeit sich vorzustellen; wenn es im | ||||||
05 | Privat= und öffentlichen Unterricht Grundsatz würde davon beständig | ||||||
06 | Gebrauch zu machen (eine Methode, Pflichten einzuschärfen, die fast jederzeit | ||||||
07 | versäumt worden ist): so müßte es mit der Sittlichkeit der Menschen | ||||||
08 | bald besser stehen. Daß die Geschichtserfahrung bisher noch nicht den | ||||||
09 | guten Erfolg der Tugendlehren hat beweisen wollen, daran ist wohl eben | ||||||
10 | die falsche Voraussetzung schuld: daß die von der Idee der Pflicht an sich | ||||||
11 | selbst abgeleitete Triebfeder für den gemeinen Begriff viel zu fein sei, | ||||||
12 | wogegen die gröbere, von gewissen in dieser, ja wohl auch in einer künftigen | ||||||
13 | Welt aus der Befolgung des Gesetzes (ohne auf dasselbe als Triebfeder | ||||||
14 | Acht zu haben) zu erwartenden Vortheilen hergenommene kräftiger auf | ||||||
15 | das Gemüth wirken würde; und daß man dem Trachten nach Glückseligkeit | ||||||
16 | vor dem, was die Vernunft zur obersten Bedingung macht, nämlich der | ||||||
17 | Würdigkeit glücklich zu sein, den Vorzug zu geben bisher zum Grundsatz der | ||||||
18 | Erziehung und des Kanzelvortrages gemacht hat. Denn Vorschriften, | ||||||
19 | wie man sich glücklich machen, wenigstens seinen Nachtheil verhüten könne, | ||||||
20 | sind keine Gebote. Sie binden niemanden schlechterdings; und er mag, | ||||||
21 | nachdem er gewarnt worden, wählen, was ihm gut dünkt, wenn er sich gefallen | ||||||
22 | läßt zu leiden, was ihn trifft. Die Übel, die ihm alsdann aus der | ||||||
23 | Verabsäumung des ihm gegebenen Raths entspringen dürften, hat er nicht | ||||||
24 | Ursache für Strafen anzusehen: denn diese treffen nur den freien, aber | ||||||
25 | gesetzwidrigen Willen; Natur aber und Neigung können der Freiheit nicht | ||||||
26 | Gesetze geben. Ganz anders ist es mit der Idee der Pflicht bewandt, | ||||||
27 | deren Übertretung, auch ohne auf die ihm daraus erwachsenden Nachtheile | ||||||
28 | Rücksicht zu nehmen, unmittelbar auf das Gemüth wirkt und den Menschen | ||||||
29 | in seinen eigenen Augen verwerflich und strafbar macht. | ||||||
30 | Hier ist nun ein klarer Beweis, daß alles, was in der Moral für | ||||||
31 | die Theorie richtig ist, auch für die Praxis gelten müsse. - In der Qualität | ||||||
32 | eines Menschen, als eines durch seine eigene Vernunft gewissen Pflichten | ||||||
33 | unterworfenen Wesens, ist also jedermann ein Geschäftsmann; und da | ||||||
34 | er doch als Mensch der Schule der Weisheit nie entwächst, so kann er nicht | ||||||
35 | etwa, als ein vermeintlich durch Erfahrung über das, was ein Mensch ist | ||||||
36 | und was man von ihm fordern kann, besser Belehrter, den Anhänger der | ||||||
37 | Theorie mit stolzer Verachtung zur Schule zurückweisen. Denn alle diese | ||||||
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