Kant: AA VIII, Was heißt: Sich im Denken ... , Seite 145 |
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| 01 | alle äußere Gewalt in Sachen der Religion sich Bürger über andere zu | ||||||
| 02 | Vormündern aufwerfen und statt Argument durch vorgeschriebene, mit | ||||||
| 03 | ängstlicher Furcht vor der Gefahr einer eigenen Untersuchung begleitete | ||||||
| 04 | Glaubensformeln alle Prüfung der Vernunft durch frühen Eindruck | ||||||
| 05 | auf die Gemüther zu verbannen wissen. | ||||||
| 06 | Drittens bedeutet auch Freiheit im Denken die Unterwerfung der | ||||||
| 07 | Vernunft unter keine andere Gesetze als: die sie sich selbst giebt; und | ||||||
| 08 | ihr Gegentheil ist die Maxime eines gesetzlosen Gebrauchs der Vernunft | ||||||
| 09 | (um dadurch, wie das Genie wähnt, weiter zu sehen, als unter der Einschränkung | ||||||
| 10 | durch Gesetze). Die Folge davon ist natürlicher Weise diese: | ||||||
| 11 | daß, wenn die Vernunft dem Gesetze nicht unterworfen sein will, das sie sich | ||||||
| 12 | selbst giebt, sie sich unter das joch der Gesetze beugen muß, die ihr ein anderer | ||||||
| 13 | giebt; denn ohne irgend ein Gesetz kann gar nichts, selbst nicht der größte Unsinn | ||||||
| 14 | sein Spiel lange treiben. Also ist die unvermeidliche Folge der erklärten | ||||||
| 15 | Gesetzlosigkeit im Denken (einer Befreiung von den Einschränkungen | ||||||
| 16 | durch die Vernunft) diese: daß Freiheit zu denken zuletzt dadurch eingebüßt | ||||||
| 17 | und, weil nicht etwa Unglück, sondern wahrer Übermuth daran Schuld ist, | ||||||
| 18 | im eigentlichen Sinne des Worts verscherzt wird. | ||||||
| 19 | Der Gang der Dinge ist ungefähr dieser. Zuerst gefällt sich das | ||||||
| 20 | Genie sehr in seinem kühnen Schwunge, da es den Faden, woran es sonst | ||||||
| 21 | die Vernunft lenkte, abgestreift hat. Es bezaubert bald auch andere durch | ||||||
| 22 | Machtsprüche und große Erwartungen und scheint sich selbst nunmehr auf | ||||||
| 23 | einen Thron gesetzt zu haben, den langsame, schwerfällige Vernunft so | ||||||
| 24 | schlecht zierte; wobei es gleichwohl immer die Sprache derselben führt. | ||||||
| 25 | Die alsdann angenommene Maxime der Ungültigkeit einer zu oberst gesetzgebenden | ||||||
| 26 | Vernunft nennen wir gemeine Menschen Schwärmerei; jene | ||||||
| 27 | Günstlinge der gütigen Natur aber Erleuchtung. Weil indessen bald | ||||||
| 28 | eine Sprachverwirrung unter diesen selbst entspringen muß, indem, da | ||||||
| 29 | Vernunft allein für jedermann gültig gebieten kann, jetzt jeder seiner Eingebung | ||||||
| 30 | folgt: so müssen zuletzt aus inneren Eingebungen durch äußere | ||||||
| 31 | Zeugnisse bewährte Facta, aus Traditionen, die anfänglich selbst gewählt | ||||||
| 32 | waren, mit der Zeit aufgedrungene Urkunden, mit einem Worte die | ||||||
| 33 | gänzliche Unterwerfung der Vernunft unter Facta, d. i. der Aberglaube, | ||||||
| 34 | entspringen, weil dieser sich doch wenigstens in eine gesetzliche Form | ||||||
| 35 | und dadurch in einen Ruhestand bringen läßt. | ||||||
| 36 | Weil gleichwohl die menschliche Vernunft immer noch nach Freiheit | ||||||
| 37 | strebt: so muß, wenn sie einmal die Fesseln zerbricht, ihr erster Gebrauch | ||||||
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