Kant: AA VIII, Recension von Schulz's ... , Seite 010 |
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01 | Versuch einer Anleitung zur Sittenlehre für alle Menschen, ohne Unterschied der |
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02 | Religion, nebst einem Anhange von den Todesstrafen. Erster Theil. Berlin 1783, |
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03 | bei Stahlbaum. |
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04 | Dieser erste Theil soll nur als Einleitung zu einem neuen moralischen | ||||||
05 | System die psychologische Grundsätze, auf die in der Folge gebauet werden | ||||||
06 | soll, von der Stelle, die der Mensch in der Stufenleiter der Wesen einnimmt, | ||||||
07 | von seiner empfindenden, denkenden und durch Willen thätigen | ||||||
08 | Natur, von Freiheit und Nothwendigkeit, vom Leben, dem Tode und | ||||||
09 | einem künftigen Leben vor Augen stellen; ein Werk, das durch seine Freimüthigkeit | ||||||
10 | und noch mehr durch die aus den vielen sehr auffallenden | ||||||
11 | Paradoxen dennoch hervorleuchtende gute Absicht des selbstdenkenden Herrn | ||||||
12 | Verfassers bei jedem Leser ungeduldige Erwartungen erregen muß, wie | ||||||
13 | doch eine auf dergleichen Prämissen gegründete Sittenlehre ausfallen werde. | ||||||
14 | Recensent wird erstlich den Gang der Gedanken des Herrn Verfassers | ||||||
15 | kürzlich verfolgen und zum Schlusse sein Urtheil über das Ganze beifügen. | ||||||
16 | Gleich zu Anfange wird der Begriff der Lebenskraft so erweitert, | ||||||
17 | daß er auf alle Geschöpfe ohne Unterschied geht, nämlich blos als der | ||||||
18 | Inbegriff aller in einem Geschöpfe vorhandenen und zu seiner | ||||||
19 | Natur gehörigen Kräfte. Daraus folgt denn ein Gesetz der Stätigkeit | ||||||
20 | aller Wesen, wo auf der großen Stufenleiter ein jedes seinen Nebenmann | ||||||
21 | über sich und unter sich hat, doch so, daß jede Gattung von Geschöpfen | ||||||
22 | zwischen Grenzen steht, die diese nicht überschreiten können, so | ||||||
23 | lange sie Mitglieder derselben Gattung bleiben. Daher giebt es eigentlich | ||||||
24 | nichts lebloses, sondern nur ein kleineres Leben, und die Gattungen | ||||||
25 | unterscheiden sich nur durch Grade der Lebenskraft. Seele, als ein vom | ||||||
26 | Körper unterschiedenes Wesen, ist ein bloßes Geschöpf der Einbildung; | ||||||
27 | der erhabenste Seraph und der Baum sind beide künstliche Maschinen. | ||||||
28 | So viel von der Natur der Seele. | ||||||
29 | Ein ähnlicher stufenartiger Zusammenhang findet sich in allem Erkenntnisse. | ||||||
30 | Irrthum und Wahrheit sind nicht der Species nach unterschieden, | ||||||
31 | sondern nur wie das Kleinere vom Größeren, kein absoluter Irrthum | ||||||
32 | findet statt, sondern jedes Erkenntniß, zu der Zeit, da es beim | ||||||
33 | Menschen entsteht, ist für ihn wahr. Zurechtweisung ist nur Hinzuthuung | ||||||
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